Rune
von Stolz. So war mein Vater.
»Möchten Sie einen Rat?« fragte sie heiter. »Einen guten?«
»Wie lautet der?«
»Gehen Sie schlafen. Sie sehen schlimmer aus als er.«
Ich kicherte. Sie hatte recht. Ich konnte spüren, wie der Tag seinen Tribut verlangte. Überall an meinem Körper konnte ich unsichtbare Gewichte fühlen, vor allem an den Augenlidern. Das Adrenalin, das mich angetrieben hatte, ging rasch zur Neige.
»Nochmals vielen Dank«, sagte ich und ging von ihrem Schalter zurück zu Mom und Aaron. Mom wollte, daß Aaron und ich heimgingen, und wir sträubten uns ein bißchen, gaben dann aber nach. Mom sagte, sie würde einige Minuten später nachkommen. Na sicher, dachte ich. Vermutlich würde sie hier auf dem Stuhl einschlafen, mit eingezogenen Beinen und dem Kopf in einem Winkel, der für Menschen nicht angenehm ist.
Aaron und ich sprachen in sprunghaften Schüben, bis wir daheim ankamen und ich in die Einfahrt fuhr. Trotz der Tatsache, daß das Haus völlig im Dunkeln lag, hatte es wohl nie einladender gewirkt. Ich freute mich so darauf, in mein vertrautes Bett in diesem vertrauten Zimmer zu kriechen und die Geräusche des Hauses wie all die Jahre zuvor zu hören, wie die nächtliche Gesellschaft eines vertrauten Freundes.
Drinnen ging Aaron ins Bad, während ich meinen Koffer in meinem Zimmer abstellte. Ich streifte die Schuhe ab und wanderte dann zur Küche, um den Kühlschrank zu plündern. Vielleicht eine Schüssel Cornflakes und eine geöffnete Limonade, die geleert werden mußte.
Ich schaltete das Licht an und blieb stehen. Hatte ich wirklich erwartet, daß Mom saubergemacht hatte?
Fragmente des papayafarbenen Tellers hatten sich wie eine Splitterbombe vom Ort des Aufpralls aus verstreut. Stücke vom Essen klebten an den Kacheln. Ein anderer Teller stand auf der Spüle, flankiert von zwei Gläsern. Eine Pfanne voll kaltem Brokkoli stand auf der Herdplatte. Salz und Pfeffer, noch mitten auf dem Tisch. Ein Handtuch hing halb aus dem Spülbecken. Und, am schlimmsten von allem, Dads Stuhl lag umgekippt vor dem Tisch. Nichts sprach so beredt von dem Geschehenen wie dieser Stuhl.
Ich eilte rasch auf ihn zu, um ihn wieder hinzustellen. Erste Priorität.
Ich hob noch Scherben des Tellers auf, als Aaron in der Küchentür erschien. Er trug eine kurze Hose und sonst nichts. Sein Gesicht sah frisch gewaschen aus.
»Brauchst du Hilfe?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich mach’ das schon. Geh’ nur ins Bett.« Ich zuckte zusammen, als meine Finger ein kaltes Stück Brokkoli erwischten, den ich schon leidenschaftlich haßte, wenn er warm war. Ich schmierte ihn an den Rand des Tellers. Zweite Priorität.
»Chris?«
Aaron war noch da, und er sah mich mit einem unsicheren, verängstigten Blick an. »Es wird ihm bald wieder besser gehen, nicht wahr? Ich meine, die würden uns doch nicht anlügen, oder? Er wird doch in Ordnung kommen?«
»Natürlich wird er das.« Es war viel zu früh, um das zu sagen, doch was sollte ich sonst glauben? Ich kniete mich über den Abfalleimer und ließ die Scherben hineinfallen, griff mir dann einen feuchten Lappen, um den Boden zu wischen. »Warum fragst du das?«
»Nun …« Aaron stand unsicher in der Tür und lehnte sich an eine Schulter, während ein Fuß auf dem anderen kratzte. Er starrte auf den Boden, wo ich saubermachte. »Man hört doch immer, wie sie einem die Wahrheit vorenthalten, damit man sich keine Sorgen macht. Du weißt schon.«
Ich warf den Lappen in den Abfluß und blieb auf dem Boden hocken. »Sie würden es uns schon sagen, wenn es so schlimm wäre. Es ist ja keine tödliche Krankheit.« Ich sah ihm direkt in die Augen. »Es geht ihm bald besser.« Dann erzwang ich ein Grinsen. »Du hättest ihn sehen sollen, als ich bei ihm reingeschaut habe. Er sah aus, als würde er jede Minute aufstehen und es mit uns beiden aufnehmen.« Ich log, ohne mit der Wimper zu zucken, doch für manche Lügen gibt es eine Entschuldigung.
»Nun, da ist noch etwas.« Seine Füße scharrten noch immer.
»Was denn?«
Sein Gesicht verzog sich, als würde er die schlimmsten Erinnerungen durchleben. »Als Mom mich auf der Arbeit angerufen hat, um es mir zu sagen, da fühlte ich mich für den Bruchteil einer Sekunde – Scheiße, ich fühlte mich froh! Nur für eine Sekunde, aber es war da, und dann habe ich mich gefragt, wo zum Teufel das herkommt, und ich habe mich so schuldig gefühlt.« Er sah aus, als stünde er kurz vorm Heulen. »Was zur Hölle
Weitere Kostenlose Bücher