Rune
öffnete den Hefter. Darin enthalten waren kopierte Zeitungsberichte, und das Papier war steif und neu.
»In der Woche, bevor ich dich aufgesucht habe, bin ich alle Mikrofilmaufzeichnungen bei der Zeitung durchgegangen. Ich hatte mich an die Vorfälle erinnert. Also las ich mir das alles wieder durch, Nacht für Nacht, Jahrgang für Jahrgang. Es hat ziemlich lange gedauert. Aber sieh’s dir trotzdem einmal an. Alle paar Monate hat sich an dem Ort scheinbar was abgespielt.«
Shelly ließ den Hefter in meinen Schoß gleiten, und ich starrte die abgenutzte Hülle an, als würde das Aufschlagen mich auf eine Straße ohne Wiederkehr führen. »Du wirst es vermutlich interessant finden.«
Sie brühte in der Küche Kräutertee auf, während ich las, und ja, ich fand es interessant. Die ersten paar Monate der Entwicklung ausgenommen, las ich nichts, was ich nicht schon in gewissem Umfang von White Trash Joe erfahren hatte, doch dieses Mal lagen mir die Informationen in fast dokumentarischem Stil vor. Und es war erfreulich, jemanden gefunden zu haben (oder von jemandem gefunden worden zu sein), der auch von dem Ort belästigt worden war. Es heißt, daß man einem mitfühlenden Fremden am einfachsten seine Probleme erzählen kann – und dieses Mal schien das Sinn zu ergeben.
Ich bemerkte kaum, daß Shelly wieder hereingekommen war und sich auf den Boden gesetzt hatte. Dampfwolken stiegen aus einer Tasse, auf der folgender Spruch stand: ›Ich will Schokolade, und ich will sie JETZT!‹
Sie nahm einen Schluck Tee. »Was hältst du davon?«
Ich ordnete die kopierten Berichte zu einem sauberen Haufen, heftete sie wieder ein und schloß die Mappe. »Es scheint, daß Tri-Lakes sich selbst beschützt hat … sich gewehrt hat gegen äußere Einwirkungen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
Ich legte den Hefter auf ihren Kaffeetisch und sah sie geradewegs an. »Jetzt bist du dran.«
Sie nickte, als käme sie einer hastig eingegangenen Verpflichtung nach, die sie nicht allzu gerne einhalten wollte. Und als ich sie so betrachtete, wie sie die Knie unterm Kinn einzog, die Hände um ihre Tasse gelegt und auf den Boden starrend, da sah sie aus, als würde sie sich in sich selbst zurückziehen. Und dieser Anblick ließ mich die folgenden Jahre mehr fürchten als je zuvor. Ich war mir nicht sicher, wie alt sie war, doch ich schätzte sie auf ungefähr fünfundzwanzig. Sie hatte mir gegenüber einen Vorsprung von sieben Jahren. Und ich hatte immer gedacht, daß in diesem Alter die Antworten auf die großen Fragen des Lebens viel einfacher zu finden wären. Daß der Weg weniger steil sei.
Während der kurzen Zeit, die ich mit ihr verbracht hatte, schien Shelly über den Dingen zu stehen. Doch jetzt mußte ich sie nur anschauen, um zu wissen, daß der Weg des Lebens sich nicht aus Respekt vor Lebenserfahrungen glättete.
Sie stellte ihre Tasse auf den Hefter und ging wieder zum Regal, wo sie ein Foto ohne Rahmen nahm. Sie gab es mir, und ich sah es an. Es zeigte sie mit einem Typ, der vermutlich einige Jahre älter war als sie, und beide lachten. Ihr linkes Bein war an sein rechtes gebunden, und sie umschlangen gegenseitig ihre Schultern. Der Typ hielt eine Bierdose, und es sah aus, als wären sie mitten im Schritt. Im Hintergrund war eine Menge anderer Leute. Ich vermutete, daß diese Aufnahme von einem dämlichen Spiel bei einem Ausflug stammte.
»Erkennst du ihn wieder?« fragte sie ruhig.
Ich sah das Bild weiter an. Er war vermutlich sechs Fuß groß, hatte dunkelblondes Haar und einen buschigen Schnurrbart. Der Ansatz eines soliden Bierbauches war unter einem grauen T-Shirt versteckt. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn je getroffen zu haben – doch etwas in seinem Gesicht schien mir entschieden bekannt.
Was Shelly als nächstes sagte, traf mich wie ein Baumast auf den Hinterkopf: »Sein Name war Dennis Lawton.«
Und sofort sah ich dieses Gesicht in meiner Windschutzscheibe auftauchen, grau und schlaff und geistlos. Seelenlos. Tot.
Ja, ich konnte mich erinnern.
»Du wußtest die ganze Zeit, daß ich es war«, flüsterte ich. Ich gab ihr das Bild zurück, und sie nahm wieder Platz. Keinesfalls wollte ich dieses Gesicht wiedersehen. Es zählte nicht, daß ich ihn nicht umgebracht hatte; das Schänden seiner Leiche war schlimm genug.
»Dein Name sagte mir gar nichts, als es passiert war«, sagte sie. »Doch ich erinnerte mich daran, als die Geschichte mit Rick publik wurde.«
So sehr ich es auch versuchte, ich
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