Rune
würde jedem trotzen, der eine Verbindung zwischen mir und meiner Vergangenheit und diesem Ort, den wir Tri-Lakes genannt hatten, herstellen und alles mit einem nordischen Band verknüpfen wollte.
Irgend etwas fehlte. Etwas Großes. Ich fühlte mich, als würde ich Anfang und Ende einer Differentialgleichung anstarren, deren Mitte man weggelassen hatte.
Europäer? Nun, sie waren tatsächlich große Entdecker gewesen. Die Wikinger waren Jahrhunderte vor Kolumbus in der Neuen Welt angekommen. Aber verdammt, sie waren nie weiter als bis zur oberen Ostküste gedrungen.
Ich umklammerte den Axtgriff, bis meine Knöchel farblos waren.
»SCHEISSE, ICH VERSTEH’S NICHT!« schrie ich hinaus zur Axt, zum Baum, zum Himmel und zur ganzen Welt. Besonders in Richtung Norwegen.
Alles, was ich bislang sicher wußte, war das Offensichtliche: was immer auch mit Tri-Lakes nicht stimmte, es war nicht darauf beschränkt. Doch eigentlich hatte ich das schon immer gewußt. Alle nötigen Beweise waren da. Die Nacht, in der ich Dennis Lawton angefahren hatte. Die Nacht, in der ich Valerie vergewaltigt hatte. Hatte ich all das nicht bequem zur Seite geschoben, in der Hoffnung, ich könnte es vergessen?
Es konnte überallhin, wo es wollte. Und ich wußte es. Es hatte mir nur eine freundliche Erinnerung geschickt.
Da stand ich, mit dem Buch in der einen Hand und der Streitaxt in der anderen. Bereit, die Welt der Körperschaften im Sturm zu nehmen und mich die Erfolgsleiter nach oben zu hacken.
Was mit diesem unhandlichen Ding tun, war die Frage, die ich mir jetzt stellte. So etwas ließ man nicht offen herumliegen, wenn man den Zweck der Axt bedachte. Ich konnte sie in meinem Zimmer verstecken, doch im Fall, daß Greg sie fände, würde er sich nur noch mehr über mich wundern. Also blieb nur ein Platz übrig. Ich konnte mir kein besseres Versteck als den Kofferraum meines Wagens vorstellen.
Da wäre sie sicher und vor Feuchtigkeit und Blicken geschützt. Und vielleicht konnte ich sie aufheben, bis ich sie mal zur Abwechslung gebrauchen konnte.
26.
Labour Day, Wochenende. Shelly Potters Wohnung war eine von vier in einem großen, alten Haus im Nordteil der Stadt. Dies war einst eine der besten Wohngegenden von Mount Vernon gewesen, mit gewaltigen Häusern und gußeisernen Toren und in einem Fall sogar Steinlöwen, welche die Einfahrt zu einem Haus bewachten. Doch die Glanzzeit des nördlichen Stadtteils war lange schon vorbei, und viele der Häuser waren nur mehr eine seltsame Sammlung trauriger Relikte, altmodisch und irgendwie wunderlich. In der Mitte zwischen den Tagen des Ruhms und den kommenden Jahren des Verfalls trauerten die Häuser und weinten abblätternde Farbe anstelle von Tränen.
Ich hätte meinen Besuch fast abgeblasen, hatte daheim meine Entscheidung wieder und wieder geändert. Ich zwang mich dazu, darüber nachzudenken, wovor ich Angst hatte. Shellys Angebot war kein dummer Scherz. Ich glaubte das von ganzem Herzen. Und das Wissen selbst, das Verständnis, konnten mir ja nicht weh tun.
Doch vermutlich hatte ich nur Furcht davor, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken, wenn ich sie erfahren sollte. Denn nun, nachdem ich Rick auf diese Weise gefunden hatte und fast von einem vagen Phantom geköpft worden war, konnte ich die Gesetze, nach denen meine Welt bislang funktioniert hatte, getrost zum Fenster hinauswerfen.
Schließlich nahm ich in dem halbdunklen Gang alle Kraft zusammen, atmete tief ein und schlug mit meinen Knöcheln gegen die Tür.
Sie öffnete wenige Augenblicke später. Shelly trug abgeschnittene Hosen und ein Tour-Shirt der Moody Blues, und ihr Haar war zu einem lockeren Knoten am Hinterkopf gebunden. »Hallo«, sagte sie und trat zur Seite, so daß ich eintreten konnte. »Ich sollte ehrlich sein. Bis zu deinem Anruf vorhin habe ich mich die letzten paar Wochen gefragt, ob du mich versetzten würdest.«
»Ich habe darüber nachgedacht«, gab ich zu. »Aber dann habe ich mir gedacht, daß du mich vermutlich jagen würdest.«
Sie schob ihre Brille von der Nasenspitze nach oben. »Nein, das glaube ich nicht. Ich hätte wohl aufgegeben.« Sie zuckte mit den Schultern. »So herzlos bin ich ja nun auch nicht.« Sie wies mir den Weg. »Dort ist das Wohnzimmer.«
Ich folgte ihr durch eine kleine Diele, vorbei an der Küche und ins Wohnzimmer. Mir gefiel die Art, wie sie die Wohnung eingerichtet hatte. Das Innere übertraf die Fassade des Hauses bei weitem. Alles war hell und luftig, und die Farben
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