Runen
keiner von seinen Gesprächspartnern dieses Tages auch nur das geringste Interesse an der Beantwortung seiner Fragen gezeigt hatte.
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Freitag, 11. Mai
Die Forderung der Polizei nach Aushändigung des Tagebuchs traf Melkorka völlig unvorbereitet. Sie protestierte heftig, schließlich handelte es sich dabei um eine ganz private Angelegenheit. Aber als Guðjón jedes ihrer Argumente umgehend vom Tisch fegte, bat sie sich Bedenkzeit aus und wandte sich an ihren Rechtsanwalt.
»Der Kommissar behauptet, irgendwer hätte diesen Amerikaner nur deswegen ermordet, um von ihm unsere CD zu bekommen, die nach seiner Aussage verschwunden ist. Deswegen sei es unabdingbar für die Polizei, den Inhalt des Notizbuches genauestens zu untersuchen«, erklärte sie. »Was kann ich denn tun, um ihn zu stoppen?«
»Wenn du dieser Forderung nicht nachkommst, musst du damit rechnen, dass die oberste Polizeibehörde einen Antrag der Staatsanwaltschaft anregen wird, beim zuständigen Ermittlungsgericht einen Beschlagnahmebeschluss zu erlassen. Weil es dem Ermittlungszweck dienlich ist, wie es so schön heißt«, setzte Aðalsteinn Indriðason ihr auseinander. »Nach Rechtspraxis halte ich es für äußerst wahrscheinlich, dass dem Ersuchen der Polizei quasi automatisch nachgekommen wird.«
»Dann muss ich das Buch also hergeben?«
»Ja. Ich halte es für so gut wie sicher, dass es darauf hinausläuft. Im Klartext heißt das für dich, dass du ihnen das |170| Buch entweder früher überlässt oder eben später, sobald der Beschlagnahmebeschluss vorliegt.«
»Aber wird Opas Tagebuch dann nicht zu einem gefundenen Fressen für die Journalistenmeute?«
»Nicht unbedingt gleich, aber im Laufe der Ermittlungen bestimmt. Gar nicht zu reden davon, wenn erst mal Anklage erhoben wird.«
Melkorka fasste einen Entschluss: »Kampflos ergebe ich mich nicht.«
Der Rechtsanwalt nahm ihre Ankündigung als selbstverständlich hin.
»Dann musst du dem Kriminalhauptkommissar mitteilen, dass das Tagebuch sowohl Privatangelegenheit als auch vertraulich ist und dass du es der Polizei deshalb ohne gültigen Beschlagnahmebeschluss nicht überlässt.«
Abends suchte Melkorka im Internet nach Informationen über J. D. Forster jr. und das Unternehmen, das ihn nach Island geschickt hatte.
»Hier steht, dass Brownwater Zehntausende Mitarbeiter in vielen Ländern hat, in erster Linie Sicherheitsleute, Söldner und Spione, unter anderem im Irak und in Afghanistan, aber auch in Afrika, Südamerika und so weiter«, berichtete sie Kári. »Viele ihrer Mitarbeiter waren zuvor für offizielle Stellen in den USA tätig: bei der Polizei, Geheimdiensten und verschiedenen Abteilungen des US-Militärs. Das sind alles Fachleute auf ihrem Gebiet. Aber sie sind auch umstritten, weil man ihnen vorwirft, sie würden erst schießen und dann fragen.«
|171| Kári dachte eine Weile darüber nach.
»Leider leben wir heute wieder in einer paradiesischen Ära für Söldner. Das römische Imperium begann auch von innen heraus zu verrotten«, bemerkte er.
»Seltsam«, meinte Melkorka nach längerem Schweigen.
»Was?«
»Die New York Times schreibt in einem Nachruf auf den Gründer von Brownwater, einen gewissen Randolph Vilnius Tritten, der 1991 gestorben ist, dass er bis weit in die sechziger Jahre für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet hat. Er hat zunächst ein Unternehmen gegründet, das der CIA zuarbeitete und das Waffen, Söldner und sonstige Spezialisten in Regionen der Erde brachte, in denen die US-Administration den Widerstand gegen linksgerichtete Regierungen unterstützen wollte«, erzählte Melkorka. »Ein Kanadier namens Melville war in diesem Unternehmen dabei und besitzt heute noch die Hälfte davon. Ansonsten liegt der Lebensweg dieses Tritten sehr im Dunkeln. Öffentlich zugänglichen Berichten zufolge wurde er 1919 in Österreich geboren, floh von dort und schloss sich der OSS an, eine Art Vorläufer der CIA in den fünfziger Jahren.«
»Das geheime Netz der amerikanischen Geheimdienste reicht unheimlich weit.«
»Na, ich finde es eher bemerkenswert, dass der Gründer des Unternehmens Österreicher war und dass man über seine Vita vor 1945 nichts weiß.«
»Ja schon, aber dafür kann es auch eine ganz natürliche Erklärung geben«, warf Kári ein.
»Der Name Tritten kann problemlos eine Abkürzung von Trittenheim sein«, rief Melkorka.
|172| Kári lächelte über ihren Eifer.
»R-V-T!«, platzte sie heraus.
»Was?«
»Rudolf von
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