Runen
anzurufen, aber er ist nicht rangegangen«, erklärte Melkorka. »Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er tot sein könnte.«
»Wir überprüfen das wie alles andere«, sagte der Hauptkommissar kühl. »Wie lange kennst du ihn schon?«
»Erst seit ein paar Tagen.«
»Nur ein paar Tage?«
»Ja.«
Guðjón schien dieser Aussage nicht zu glauben.
»Ich hatte mich an Beinteinn wegen des Runenbuches meines Großvaters gewandt«, fügte sie hinzu. »Man sagte mir, dass er von allen Isländern am meisten über die alten Runen wüsste.«
»Also wieder das Runenbuch«, rief der Hauptkommissar. »Wenn ich’s nicht förmlich gerochen hätte!«
»Was meinst du damit?«
»Drei Todesfälle hängen mit dem Buch von Höskuldur Steingrímsson zusammen, oder etwa nicht? Zuerst er selbst, dann John Dulles Forster und jetzt noch Beinteinn Marteinsson.«
Melkorka sah den Beamten fragend an.
»Willst du allen Ernstes behaupten, Beinteinns Tod war kein Unfall?«
»Mir scheint das von Minute zu Minute unwahrscheinlicher. |177| Konnte er den Runentext deines Großvaters denn lesen?«
Melkorka nickte.
»Wann gelang ihm das?«
»Letzten Freitag«, antwortete sie.
»Also an dem Tag bevor du John Dulles Forster gefunden hast?«
»Ja, das stimmt.«
Melkorka erschrak, als ihr plötzlich der ganze Umfang des Verdachts klar wurde: dass zwischen ihr, dem Mord an Forster und dem plötzlichen Ableben des Dichters von Hvíthöfði eine Verbindung bestehen könnte.
»Ich will eine genaue Auflistung von dir, wo du all die Tage gewesen bist, als du mit Beinteinn zusammengesessen hast«, sagte Guðjón.
»Von mir?«
»Ja, von dir.«
»Jetzt gleich?«
»Ja«, antwortete der Beamte und legte einige Bögen Papier vor sie auf den Tisch. »Versuch, nichts zu vergessen.«
Melkorka zögerte. Sie studierte die unbewegte Miene des Hauptkommissars. Er hielt sie für unaufrichtig, so viel stand für sie fest.
»Du hast mich aber nur als Zeugin hierher geladen, richtig?«
»Im Augenblick bist du noch in deiner Eigenschaft als Zeugin hier.«
»Noch?«
»Noch«, wiederholte der Beamte.
In Melkorka stieg Zorn auf: »Mir gefällt dieser anschuldigende Ton nicht.«
|178| »Und mir gefallen Morde nicht«, konterte Guðjón.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich mit diesen Morden etwas zu tun habe?«
»Wenn dein Alibi sauber ist, hast du nichts zu befürchten.«
»Alibi?«, rief Melkorka. »Ich war weder dabei, als Forster umgebracht wurde, noch als Beinteinn in seiner Badewanne ertrank.«
»Woher weißt du, dass er ertrunken ist?«
»Was soll denn das, Mann? Auf dem Bild, das du mir eben gezeigt hast, liegt er in seiner Badewanne im Wasser.«
Guðjón kniff die Lippen zusammen.
»Mir passt das ganz und gar nicht, wie du dich hier aufspielst«, fuhr Melkorka fort. »Ich werde jetzt meinen Rechtsanwalt einschalten.«
Guðjón erhob sich.
»Dann geh und richte ihm aus, dass ich gleich morgen früh dein Alibi schriftlich hier haben will«, sagte er barsch. »Und sag ihm auch, dass ich das Tagebuch von Höskuldur Steingrímsson lesen will, bevor noch mehr Leute, die mit diesen Runen deines Opas in Berührung kommen, das Zeitliche segnen.«
Der Hauptkommissar schüttete den übel schmeckenden Kaffee hinunter und sah nach, ob es von Interpol mittlerweile irgendwelche Informationen zu der Suche nach Greta Schneider gab. Er wunderte sich sehr, dass es dieser Frau monatelang gelungen war, die europäische und internationale Polizei an der Nase herumzuführen. Er hatte |179| einige Schulungen bei Europol und Interpol besucht und wusste sehr gut Bescheid, was für technische Mittel eingesetzt wurden und wie ausgereift sie waren, um verdächtige Personen zu beobachten.
Wieso konnte diese Deutsche so tun, als sei sie unsichtbar?
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Frühmorgens rief Melkorka den Rechtsanwalt ihres Großvaters an und legte ihm die neuesten Forderungen der Polizei dar.
»Hast du denn irgendetwas zu verbergen?«, fragte Aðalsteinn Indriðason.
»Nein, überhaupt nicht.«
»Dann schick mir eine E-Mail mit der Auflistung, wann du an dem bewussten Wochenende wo warst. Ich werde über deine Erklärung dann noch mal drübergehen und mich darum kümmern, dass die Informationen vor morgen Mittag dem Hauptkommissar vorliegen.«
»Ich danke dir.«
»Und wegen des Notizbuchs: Bleibst du bei deiner Entscheidung?«
»Auf alle Fälle«, sagte sie entschlossen. »Dieses grobe, rücksichtslose Verhalten finde ich schlicht und einfach völlig
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