Runen
oder Auschwitz erzählen. Wie so viele andere, die den Holocaust überlebt haben, klaffen auch in ihr die Wunden, die ihr diese Schrecknisse auf Lebenszeit in ihren Geist und ihr Herz gerissen haben. Aber ihr Bruder hat mir die menschengemachte Hölle im Detail geschildert, bevor er starb. Ich verstehe sehr gut, dass sie vor dem Gedanken, in Deutschland zu wohnen, zurückschreckte. Sie sagte zu Vater, dass es ihr unerträglich wäre, ja tagtäglich eine Marter, wenn |206| sie gezwungen wäre, die Leute um sich herum Deutsch sprechen hören zu müssen. So kam es, wie es jetzt ist, aber sie sind immer noch verheiratet.«
Melkorka schwieg. Sie war noch nie jemandem begegnet, der persönlich vom Holocaust betroffen war. Sie konnte sich die Unbarmherzigkeit und die Leiden nicht ausmalen, die Leben und Tod in den deutschen KZs ausgemacht haben mussten.
|207| 43
Mittwoch, 16. Mai
Bis weit in die Nacht saß Melkorka an einem der Fenster in der Stube des Sommerhäuschens, das Sexton in der Ortschaft Strub im Berchtesgadener Land gemietet hatte. Gedankenversunken betrachtete sie die steilen Berge, die wie schwarze Riesen in den bedeckten Nachthimmel ragten.
Sexton hatte ihnen am Vorabend am Steuer ihres Mietwagens auf dem Weg von München den Zeitplan ihrer Unternehmung erklärt.
»Das Restaurant auf dem Kehlstein wird um fünf Uhr nachmittags geschlossen. Das bedeutet, dass sich abends und nachts niemand in dem Haus aufhält. Wir werden den Adlerhorst zweimal aufsuchen. Das erste Mal Mittwochmittag, also morgen, und zwar als ganz normale Touristen, um uns mit den Umständen vertraut zu machen und die Suche vorzubereiten. Um Mitternacht machen wir uns dann auf zum zweiten Besuch. Die Suche selbst sollte möglichst innerhalb von drei Stunden abgeschlossen sein, damit wir vor Donnerstagmittag mit unserem Fund ins Flugzeug kommen. Die ganze Aktion, vom ersten Besuch dort oben bis zum Abflug aus München, darf nur vierundzwanzig Stunden dauern.«
Er befahl allen, ihre Handys auszuschalten.
»Wir dürfen keine nachverfolgbaren digitalen Spuren hinterlassen, falls etwas schiefgehen sollte. Ich habe ein |208| nicht ortbares Mobiltelefon, das wir im Notfall verwenden können.«
Melkorka nutzte die Gelegenheit, um nach Hause zu telefonieren und ihrem Mann zu erklären, dass sie die nächsten sechsunddreißig Stunden nicht erreichbar sein würde: »Alle Anrufe bei mir werden in der Zwischenzeit automatisch an unser Festnetztelefon weitergeleitet. Schreib’s einfach auf, wenn irgendwer was von mir will.«
Melkorka hatte sorgfältig darauf geachtet, den Bericht ihres Großvaters von dem Geheimversteck für sich zu behalten:
Wir waren anwesend, als Himmler drei verschlossene Umschläge in einem geheimen Fach verwahrte, das jenseits des Felsens Il Duce in Stein geformt wurde, wo Ritter Schätze bewachen.
Aber was meinte er mit
jenseits des Felsens Il Duce
?
Sie hatte im Internet nach Beschreibungen vom Inneren des Adlerhorstes gesucht, die den Sinn dieses rätselhaften Satzes erhellen könnten, doch ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Zwar fand sie Hinweise auf den italienischen Diktator Benito Mussolini, der sich
Il Duce
nennen ließ und der Hitler einen prächtigen Kaminofen aus rotem italienischen Marmor im Kehlsteinhaus zum Geschenk machte. Aber das war auch schon alles.
Gegen Mittag strömten die Touristen in Scharen zum Adlerhorst. Sie bestiegen die Zubringerbusse, die das Monopol besaßen, die enge, gewundene Straße hinaufzufahren. Sie war aus dem harten Gestein herausgeschlagen worden. Manchmal hatte man sogar Felswände dafür gesprengt.
Melkorka saß neben Susan Houston im vordersten Bus. Sexton hingegen entschied sich dafür, zusammen mit seinem |209| jungen und ebenso durchtrainierten wie wortkargen Assistenten, der sich ihnen als Jack vorgestellt hatte, den zweiten Bus zu nehmen.
»Jack … und wie noch?«, hatte Melkorka nachgefragt.
»Jack Powell«, war Sextons knappe Antwort.
Susan fühlte sich sichtlich unwohl, als der Bus nahe am steil in die Tiefe abfallenden Wegsaum mühsam den Kehlstein hinaufkroch. An manchen Stellen war der felsige Untergrund von hochgewachsenen Bäumen bestanden, aber da und dort fiel der Blick in einen verschlingenden Abgrund hinunter.
»Kein Grund zur Besorgnis«, meinte Melkorka.
»Das sagst du so«, entgegnete Susan. »Da geht’s so fürchterlich tief und steil runter, und wenn der Bus vom Weg abkommt, sind wir alle tot.«
»Das passiert schon nicht«, versuchte Melkorka
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