Runen
ihr Mut zu machen. »Die Fahrer machen die Strecke mehrmals am Tag rauf und runter und kennen jede Kurve wie ihre Westentasche.«
Susan holte ihr Fläschchen aus der Tasche und verabreichte sich einige Sprühstöße von dem Medikament, um den beginnenden Asthmaanfall abzufangen.
Auf dem Parkplatz hoch oben in den steilen Felsen des Kehlsteins verließen sie den Bus und standen vor einem Tunnel, der direkt in die Felswand führte. Weit oben auf dem Felsgipfel erkannten sie das Haus, das aus großen grauen Steinziegeln erbaut war.
»Ursprünglich war der Adlerhorst als Repräsentationsgebäude für Hitler gedacht«, bemerkte Susan. »Bormann wollte, dass der Führer hier seine Gäste aus dem Ausland empfangen sollte. Angesichts der Genialität und der |210| Macht der Nationalsozialisten, die ihnen diese unbestreitbar große Bauleistung vor Augen führte, hätten sie dann andächtig in die Knie sinken sollen. Allerdings sagt uns die Geschichte, dass Hitler selten hier heraufkam, weil er Höhenangst hatte.«
Melkorka ging voraus in das Tunnelgewölbe, das mit grauen Steinplatten ausgekleidet war. Vor dem Lift stand eine lange Warteschlange.
»Von hier aus sind es 124 m in das Restaurant hinauf«, meinte Susan.
Sie ließen sich von der Menge in den Aufzug schieben, der innen mit Messingplatten und schön verzierten venezianischen Spiegeln ausgekleidet war. Melkorka setzte sich auf eine lange Bank, die mit grauem Leder bezogen war. Susan blieb vor ihr stehen.
»Hitler litt auch an Klaustrophobie«, fuhr Susan fort. »Deswegen die ganzen Spiegel hier.«
»Die sind schön, kann man nicht anders sagen«, kommentierte Melkorka.
»Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Nazis mit den Arbeitern, die diesen Aufzugschacht angelegt haben, ausgesprochen schlimm umgingen.«
»Inwiefern?«
»Zwölf von ihnen starben bei der Arbeit.«
Der geräumige Lift brauchte weniger als eine Minute, um durch den Berg zum Gipfel zu gelangen.
Melkorka hatte bereits im Internet einige Bilder des Restaurants gesehen und wusste daher ganz genau, was sie als Erstes unternehmen wollte.
Mit raschen Schritten ging sie in den Aufenthaltsraum, in dem sich Hitler und Bormann einstmals in den tiefen |211| Sesseln vor dem prasselnden Kaminfeuer entspannt hatten. Dort setzte sie sich an einen der mit Tüchern bedeckten Tische und betrachtete aufmerksam Mussolinis Geschenk: den großen Kamin aus rötlichem Carrara-Marmor, in dem ein großes Feuer brannte, so wie einst.
»…
jenseits des Felsens Il Duce …
«
Sie vermutete, dass ihr Großvater diesen rötlichen Marmor meinte, als er von dem Felsen schrieb.
»Auf diesem Stockwerk sind die Gasträume und die Küche, im Kellergeschoß gibt es einige kleinere Räume, die heute hauptsächlich als Lagerräume benutzt werden«, sagte Susan. »Dort waren unter anderem Hitlers Büro und ein Zimmer, das nach Eva Braun benannt war.«
Sexton trat an ihren Tisch heran. Er tat so, als kennte er sie nicht.
»Ist hier noch frei?«, fragte er.
»Bitte sehr«, antwortete Melkorka und nahm ein Stück von ihrem Apfelkuchen.
Sexton legte eine kleine Fotokamera auf den Tisch und setzte sich.
»Wo ist Jack?«
»Bei seiner Pflicht«, gab der Amerikaner kurz angebunden zurück. Er bestellte Kaffee und blickte Melkorka prüfend an: »Haben Sie alles gesehen, was Sie sehen mussten?«
»Nein. Wissen Sie, wo die Toiletten sind?«
»Dort drüben.«
Melkorka stand vom Tisch auf und ging in den Toilettenraum, obwohl sie eigentlich nicht musste. Sie wollte ihre Vermutung vor dem Agenten von Brownwater so lange wie möglich zurückhalten.
|212| Einige Minuten später schlenderte sie den Gang jenseits des weißgestrichenen Kaminschachtes entlang. Als sie außer Sichtweite war, lehnte sie sich an die Wand und betrachtete die Rückseite des Kaminofens.
Eine große Metallplatte mit der Jahreszahl 1938 war in die Steinmauer eingelassen, das Jahr der Fertigstellung des Adlerhorstes. Zu beiden Seiten der Jahreszahl waren abgegriffene Reliefs, die berittene Soldaten des Mittelalters darstellten. Sie waren in voller Kampfausrüstung und schwangen drohend ihre mächtigen Schwerter.
Melkorka brauchte eine Weile, um die Bedeutung der Reliefs auf der Metallplatte zu erkennen. Dann aber fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: …
wo Ritter Schätze bewachen.
Dort in der Wand musste Himmlers Geheimfach sein.
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Kári Sigurvinssons Alptraum begann an diesem Tag gegen fünf Uhr nachmittags, als er bei der Tagesmutter im
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