Runen
Stadtteil Kópavogur klingelte, um seinen Sohn Darri abzuholen.
Guðríður, eine gut gebaute Frau um die fünfzig, sah Kári erstaunt an, als er plötzlich vor ihr stand. Obwohl er drei Mal die Woche seinen Sohn bei ihr abholte.
»Na, Kári, habt ihr was vergessen?«, fragte sie müde.
Kári verstand nicht.
»Ist unser Kleiner fertig?«, fragte er wie immer, wenn er seinen Sohn abholte.
Guðríður lächelte gutmütig: »Da habt ihr zwei wohl heute was durcheinandergewürfelt.«
»Was meinst du?«
»Die Schwester deiner Frau hat ihn vor einer Stunde abgeholt. Hast du das nicht gewusst?«
»Melkorkas Schwester?«, wiederholte er verblüfft.
»Ja. Hat sie vielleicht vergessen, dir das zu sagen?«
Kári starrte wie vom Donner gerührt in Guðríðurs breites Gesicht: »Willst du mir damit sagen, dass vorhin jemand da war und Darri mitgenommen hat?«
»Ja. Deine Frau hat sie gebeten, den Kleinen abzuholen. Das stand so auf dem Zettel von Melkorka.«
Kári wusste nicht, wie ihm geschah. Verwirrt machte er den Mund auf und zu.
|214| »Zeig mir mal den Zettel«, bat er schließlich.
»Ich hab nur gelesen, was Melkorka aufgeschrieben hat. Dann hab ich den Kleinen angezogen«, sagte Guðríður. Die Fragerei war ihr auf einmal sichtlich unangenehm. »Melkorkas Schwester hat den Zettel wieder eingesteckt.«
»Hat sie irgendeinen Ausweis vorgezeigt?«
»Nein. Sie hat nur gesagt, sie sei die Schwester deiner Frau, und hatte …«
»Melkorka hat keine Schwester«, unterbrach Kári sie grob.
Guðríður schlug erschrocken die Hand vor den Mund: »Um Gottes willen!«
»Wie sah die Frau denn aus?«
»Jung und blond, und sie hatte blaue Augen. Sie hat so freundlich gelächelt.«
Guðríður taumelte einige Schritte rückwärts.
Kári rief Melkorka auf dem Handy an. Aber nur der Anrufbeantworter zu Hause meldete sich.
»Ruf sofort zurück!«, rief er, obwohl Melkorka ihn nicht hören konnte.
Guðríður kippte rücklings auf einen Stuhl neben dem Telefontischchen in der Diele.
Kári fackelte nicht lange.
»Diese Frau hat Darri entführt, kein Zweifel«, erklärte er ihr. »Ich muss die Polizei verständigen.«
Er zog sein Handy erneut hervor und wählte die Notrufnummer.
Während der nächsten Stunden wurde der Alptraum nur noch schlimmer. Die Polizei vernahm Kári und Guðríður, |215| bekam eine genauere Beschreibung von der blonden Frau und gab die Meldung an alle Polizeidienststellen des Landes weiter.
Kári kam fast um vor Sorge um seinen Darri. Sicher musste er Angst und Schrecken in den Händen der Unbekannten durchmachen. Als Erna ihn abends nach Hause brachte, versuchte sie Kári aufzumuntern, so gut es eben ging.
»Kindesentführungen sind hierzulande äußerst selten und haben in der Regel mit Streitereien über die Vormundschaft zu tun«, sagte sie. »In den paar Malen, wo es eine verwirrte Frau fertiggebracht hat, ein fremdes Kind an sich zu nehmen, ist es uns immer gelungen, das Kind innerhalb von ein paar Stunden wieder aufzuspüren.«
»Glaubst du, dass eine verwirrte Frau Darri entführt hat?«
»Im Augenblick gehen wir davon aus, dass es sich wahrscheinlich um eine Mutter handelt, die kürzlich ihr eigenes Kind verloren hat und diesen Schock nicht verarbeiten konnte«, erklärte Erna. »Wir überprüfen alle Fälle von Kindstod der letzten sechs Monate und hoffen dadurch auf eine Personenbeschreibung zu stoßen, die zu der Beschreibung der Tagesmutter passt.«
Kári konnte seine Zweifel hinsichtlich des Ansatzes, den die Polizei verfolgte, nicht lange zurückhalten.
»Das trifft meinetwegen zu, wenn eine geistesgestörte Frau einen Kinderwagen vor einem Laden in der Fußgängerzone sieht und ihn mitnimmt«, widersprach er. »Aber mir scheint eher, dass diese Entführung sorgfältig vorbereitet wurde. Immerhin hatte diese Frau einen gefälschten Brief von Melkorka bei sich. Die Entführerin |216| wollte offensichtlich nicht irgendein Kind rauben, sondern sie hatte es glasklar auf unseren Sohn abgesehen.«
Als sie die Diele betraten, klingelte das Festnetztelefon. Kári hob eilig den Hörer ab.
»Grüße von Frau Schneider«, krächzte eine verzerrte Stimme auf Englisch.
»Wer spricht da?«, fragte Kári.
»Sie sind nicht Melkorka Steingrímsdóttir.«
»Natürlich nicht. Ihr Handy ist ausgeschaltet.«
»Ich muss mit ihr persönlich sprechen.«
»Das geht nicht. Aber ich kann ihr etwas ausrichten.«
»Wer sind Sie?«
»Kári, ihr Mann.«
Eine Weile herrschte Schweigen im
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