Runen
Telefon.
»Hallo?«, fragte Kári.
»Ich habe eine Nachricht von Frau Schneider an Melkorka.«
»Was für eine Nachricht?«
»Zuallererst soll ich ihr sagen, dass es ihrem Jungen gutgeht«, schnarrte die Stimme.
Kári lief es kalt den Rücken hinunter. Er zog Erna zu sich, damit sie das Gespräch mithören konnte.
»Heißt das, Greta Schneider hat unseren Sohn entführt?«, fragte er.
»Wir lassen ihn nur frei, wenn Melkorka genau das tut, was wir verlangen. Ist das klar genug ausgedrückt?«
»Ja.«
»Wir wissen, was Melkorka im Adlerhorst tut.«
»Wo ist unser Kind?«, rief Kári heftig.
»Wir wissen, dass Melkorka nach Geheimdokumenten sucht, die 1944 in dem Haus versteckt wurden. Der Junge |217| kommt frei, sobald wir alle Dokumente in Händen halten.«
»Mit Kindesentführung kommt ihr in Island nicht durch.«
»Wenn Sie nicht ganz exakt unseren Vorgaben folgen, wird Ihr Sohn genau so spurlos verschwinden wie Madeleine McCann, das verspreche ich Ihnen«, drohte die verzerrte Stimme.
»Sie sind ein Monster, Sie …«
»Ich lasse Sie wissen, wo und wann Melkorka uns die Dokumente zu übergeben hat.«
Ohne Vorwarnung wurde aufgelegt.
»Hallo?«, rief Kári mehrmals.
Doch da war niemand mehr in der Leitung.
|218| 45
Guðjón Andreas Baldvinsson raste nach Grafarholt, um Erna und Kári zu dem anonymen Telefonanruf zu befragen.
»Wir wissen bereits, dass Melkorkas Handy von einer nicht registrierten Teilnehmernummer aus angerufen wurde«, legte er los, ohne sich mit Begrüßungen aufzuhalten. »Und dass der Anrufer in Deutschland war.«
Kári hatte Mühe, die verfremdete Stimme zu beschreiben. Er konnte noch nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob er mit einer Frau oder mit einem Mann gesprochen hatte.
»Du bist Greta Schneider schon mal begegnet«, stellte der Kriminalhauptkommissar fest. »War sie am Telefon?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Kári. »Der Anrufer oder die Anruferin behauptete, eine Nachricht von der Schneider zu haben, und ich habe das so verstanden, dass sie demnach nicht selbst am Telefon war.«
»Die Stimme war eindeutig digital verzerrt«, fügte Erna hinzu.
»Wir haben Beweise dafür, dass die Deutsche am Morgen nach dem Mord an John Dulles Forster jr. das Land verlassen hat«, sagte Guðjón. »Wenn sie an der Entführung von Darri beteiligt ist, dann wurde sie von Isländern unterstützt.«
»Das erscheint einleuchtend«, antwortete Kári.
»Wir konzentrieren uns auf die Fahndung nach der |219| blonden jungen Frau, die den Jungen bei der Tagesmutter abgeholt hat. Das ist für uns am aussichtsreichsten.«
»Habt ihr sonst noch Hinweise erhalten?«
»Noch nicht.«
»Was, wenn sie versucht, das Kind außer Landes zu schaffen?«
»Die Flughafenpolizei in Keflavík ist auf alles vorbereitet, seit die Meldung von der Entführung durchgegeben wurde.«
Der Hauptkommissar blickte Kári prüfend an.
»Was sind das für Dokumente, die Greta Schneider im Austausch für euren Sohn haben will?«
Guðjón versuchte sich Káris etwas verworrene Darstellung vom Inhalt des Tagebuchs zu vergegenwärtigen. Da ging es wohl um die Suche nach alten Runenzaubersprüchen, um eine geheime Mission hochgestellter SS-Leute in einem deutschen U-Boot im Nordatlantik gegen Ende des Krieges und um Dokumente diesbezüglich, die im Adlerhorst offenbar noch versteckt waren. Außerdem beteiligte sich Melkorka an der Suche eines kanadischen Milliardärs danach in Deutschland.
»Ihr habt die CD mit der Kopie des Tagebuchs nicht mehr gefunden, und der kanadische Krösus weiß nichts davon, dass er sie jemals zu Gesicht bekommen hätte«, fügte Kári hinzu. »Meiner Meinung nach ist das ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die Schneider J. D. Forster ermordet hat, um ihm die CD abzunehmen und außer Landes zu schaffen.«
Der Hauptkommissar dachte einen Moment über Káris Ausführungen nach.
»Es muss einen triftigen Grund geben, weswegen an der |220| letzten Fahrt des U-Boots ein so hohes Interesse besteht«, meinte er.
»Himmlers Gesandte hatten eine kostbare Fracht mit an Bord.«
»Was für eine Fracht?«
»Viele große Kisten.«
»Was war darin?«
»Wahrscheinlich Gold.«
Kári setzte dem Hauptkommissar die Vermutung des amerikanischen Historikers auseinander, dass Rudolf Freiherr von Trittenheim als der Schwarze Bankier einen Teil des auf grauenhafte Weise angeeigneten Goldes von der Deutschen Reichsbank hatte außer Landes schaffen lassen wollen, bevor die Alliierten das Deutsche
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