Runenschild
glaube, er hat die halbe Nacht oben auf der Burgmauer verbracht und Pläne für die Verteidigung geschmiedet.« Lancelot schüttelte den Kopf. »Lass ihn ruhig.
Er ist ein Mann, der ohne Aufgabe nicht glücklich ist.«
»Ist das nicht bei euch allen so?«, erkundigte sich Gwinneth. »Mir ist noch kein Mann begegnet, der nicht davon
geträumt hätte, die Welt zu retten – oder wenigstens dann
und wann einen Drachen zu erschlagen.«
»Bin ich etwa kein Mann?«, beschwerte sich Lancelot.
Gwinneth lachte. »Ich weiß nicht. Jedenfalls scheint es
mir Monate her, dass du das letzte Mal versucht hast, es zu
beweisen.«
Lancelot ächzte. »Also das ist doch …«
»Und um auf deine Frage von vorhin zurückzukommen«, fiel ihm Gwinneth ins Wort, »ich habe tatsächlich
sehr gut geschlafen, weißt du? Ich habe nicht einmal gefroren. In meinem Zimmer gibt es einen Kamin.« Sie blinzelte ihm zu. »Deshalb nennt man es Kemenate, musst du
wissen – das kommt von dem alten Wort Temin .«
»So?«
»Ich fürchte nur, das Feuer ist allmählich heruntergebrannt«, sagte Gwinneth.
»Wenn das so ist«, antwortete Lancelot und stand auf,
»dann sollten wir vielleicht hinaufgehen und gemeinsam
ein paar Scheite nachlegen.«
Die Tage kamen und gingen und reihten sich zu einer Woche, und als sie vorüber war, erkannte Lancelot Tintagel
nicht wieder. Aus der verlassenen, sturmumtosten Festung
hoch über der Küste Cornwalls war wieder ein Heim geworden, in das Leben, Wärme und vor allem Zuversicht
Einzug gehalten hatten, und auch wenn Tintagel noch weit
davon entfernt war, nur einen schwachen Abglanz seiner
früheren Pracht und Größe erahnen zu lassen, so begann
doch selbst Lancelot allmählich wieder neuen Mut zu
schöpfen. Als er in jener furchtbaren Nacht den gewaltigen Schatten Tintagels hoch über den Hügeln erblickt hatte, da war er fest davon überzeugt gewesen, dieser Burg
niemals näher zu kommen, geschweige denn einen Fuß in
ihre Mauern zu setzen. Und auch danach hatte er sie –
wenn überhaupt – nur als Zwischenstation angesehen, einen Ort, an dem sie vielleicht wenige Tage ausruhen und
neue Kraft schöpfen konnten, bevor ihre endlose
aussichtslose Flucht weiterging. Mit jeder weiteren Frau
und jedem Mann aber, die in die Burg kamen, jedem
Wagen voller Vorräte, Feuerholz und Kleidung, jedem
Abgesandten aus einem der umliegenden Dörfer, der kam,
um Gwinneth seines Beistandes zu versichern, wuchs auch
in ihm die Hoffnung, dass sie vielleicht tatsächlich am
Ende ihrer verzweifelten Flucht angelangt sein könnten.
Die zweite Woche verstrich, dann die dritte und schließlich der erste Monat, und endlich hatte auch der Winter
seinen Höhepunkt überschritten. Es schneite noch immer
fast ununterbrochen und es verging keine Nacht, in der der
Sturm nicht wie mit unsichtbaren Riesenfäusten an den
uralten Mauern und Zinnen Tintagels rüttelte und seine
Enttäuschung hinausschrie, wenn sie ihm trotz allem
standhielten. Aber die Nächte wurden bereits wieder kürzer und die Tage länger und irgendwann würde schließlich
auch dieser ungewöhnlich harte Winter einmal zu Ende
gehen.
Es war an einem Morgen, vielleicht sechs oder auch acht
Wochen nach ihrem Eintreffen auf Tintagel, als Gwinneth
auf das Thema zu sprechen kam, vor dem sich Lancelot
insgeheim seit dem allerersten Moment gefürchtet hatte.
Sie standen am offenen Fenster ihrer Kemenate, nur in die
dünne Decke gehüllt, die sie sich teilten, und genossen das
Gefühl des warmen, hochprasselnden Kaminfeuers im
Rücken und der eisigen Kälte, die durch das weit offen
stehende Fenster hereinströmte. Vielleicht lag es daran,
dass es zum ersten Mal seit Ewigkeiten weder schneite
noch stürmte, dass Gwinneth ihre Frage stellte: »Was tun
wir, wenn der Winter vorüber ist?«
Lancelot antwortete nicht gleich. Wie oft hatte er sich
selbst genau diese Frage gestellt und wie oft war er zu
keiner Antwort gekommen? Sosehr sie alle unter der grausigen Kälte des Winters litten, der der schlimmste und
härteste zu sein schien, soweit sich die Menschen in diesem Land erinnern konnten, so wenig hatte er sich
manchmal gewünscht, dass er jemals enden würde, denn
die grimmige Kälte, die sie wie alle anderen beinahe zu
Gefangenen in dieser Burg machte, war zugleich auch ihr
zuverlässigster Schutz; vielleicht sogar ihr einziger.
Er antwortete nicht, doch Gwinneth schien sein Schweigen richtig zu deuten, denn sie fuhr nach einer Weile und
mit
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