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Runenschild

Titel: Runenschild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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vielleicht war es ganz genau das, was sie von ihm erwartete: Dass er Gwinneth
hinüber auf die Tir Nan Og führte, die nicht nur die Insel
der Unsterblichen war, sondern auch Morgaine Le Fayes
ureigenstes Reich, die Welt der Elben, in der sie über die
ganze Macht der finsteren Magie verfügte, die sie hier, in
der Welt der Menschen, nicht vollständig entfalten konnte.
Irgendetwas Schlimmes wartete hinter dieser Tür, das
spürte er.
»Wir sollten das nicht tun«, sagte er.
»Warum?«
Lancelot zögerte noch einen Moment, aber dann deutete
er auf das bizarre Kristallgebilde in der Mitte des Sees.
»Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Tief unter der
schwarzen Festung Malagons.«
»Und?« Gwinneth wirkte verstört. Vielleicht spürte sie
die Furcht, die die Erinnerung in Lancelot heraufbeschwor.
»Ich dachte, es wäre der Quell von Morgaines Macht.«
Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen. Seine Stimme zitterte. »Ich war so dumm. Um ein Haar hätte ich eine unvorstellbare Katastrophe heraufbeschworen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Gwinneth.
»Ich habe versucht, es zu zerstören«, sagte Lancelot. »Es
ist mir nicht gelungen. Aber um ein Haar hätte ich Camelot zerstört.«
Gwinneth blinzelte. Sie wollte lachen, doch es misslang.
»Aber das ist doch Unsinn. Wie kannst du …«
»Das Erdbeben, das Camelot heimgesucht hat«, unterbrach sie Lancelot. »Erinnerst du dich nicht?«
»Doch«, sagte Gwinneth. »Und was hat das mit dir zu
tun?«
»Ich habe mein Schwert gezogen und versucht den Quell
von Morgaines Macht zu zerschlagen«, antwortete Lancelot. »Und im gleichen Moment, in dem ich es tat, begannen Camelots Mauern zu wanken.« Er riss sich unter Aufbietung aller Kräfte vom Anblick des schillernden Kristallgebildes los und drehte sich zu Gwinneth herum. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Morgaine kam
und hat mich im letzten Moment aufgehalten. Hätte sie es
nicht getan, gäbe es jetzt kein Camelot mehr.«
»Aber das ist …« Gwinneths Stimme versagte. Sie
schüttelte immer wieder hilflos den Kopf. »Aber das kann
nicht sein. Du musst dich irren.«
»Ich wollte, es wäre so«, flüsterte Lancelot. Die Erinnerung schmerzte. Sie schmerzte unvorstellbar.
»Du hast mir nie davon erzählt«, sagte Gwinneth nach
einer Weile.
»Wie konnte ich das?«, murmelte Lancelot. Er wollte
noch mehr sagen, aber seine Stimme versagte und plötzlich begann er am ganzen Leib zu zittern.
Gwinneth kam auf ihn zu, nahm ihn in die Arme und
drückte ihn zärtlich an sich. »Warum hast du es mir niemals gesagt, Liebster?«, flüsterte sie. »All dieser Schmerz.
Warum wolltest du ihn nicht mit mir teilen?«
Vielleicht, dachte Lancelot, weil geteiltes Leid eben nicht
halbes Leid ist, sondern nur zu oft doppeltes. Laut sagte
er: »So schlimm war es nicht. Es sind ja gottlob keine
Menschen zu Schaden gekommen.« Fast behutsam, aber
sehr entschlossen löste er sich aus Gwinneths Umarmung
und trat einen Schritt zurück. »Doch es wäre gefährlich,
nicht aus diesem Fehler zu lernen, Gwinneth. Das nächste
Mal könnte vielleicht ein größeres Unglück geschehen.«
Gwinneth sah ihn ernst an, antwortete aber nicht darauf,
sondern wandte sich wieder dem See zu und blickte nachdenklich auf das Wasser, über dem ein grauer Dunst trieb,
um schließlich den Kopf zu heben und das gewaltige eiserne Tor auf der anderen Seite zu betrachten.
»Lass es uns wenigstens … versuchen«, sagte sie zögernd. »Wir müssen ja nicht hindurchgehen. Ich will nur
einen Blick hineinwerfen.«
»Wir kämen ja nicht einmal hin.« Lancelot deutete zur
Seite. Abgesehen von dem schmalen Streifen trockenen
Bodens, auf dem sie standen, und einem kaum breiteren
Bereich auf der anderen Seite unmittelbar vor dem Tor,
reichte das Wasser überall bis an die Wände heran. Es gab
keine Möglichkeit, trockenen Fußes auf die andere Seite
des unterirdischen Sees zu gelangen.
Anstatt zu antworten beugte sich Gwinneth vor und
tauchte die Hand ins Wasser. »Es ist warm. Wir können
hinüberschwimmen.«
»Eine wunderbare Idee«, gab Lancelot – in ganz bewusst
verletzend-spöttischem Ton – zurück. »Und auf dem Weg
zurück nach oben erfrieren wir dann in unseren nassen
Kleidern.« Er schüttelte den Kopf. »Was glaubst du, wie
lange du es draußen aushältst? Eine Minute oder vielleicht
sogar zwei?«
Einen Moment lang wirkte Gwinneth ehrlich betroffen,
aber er hätte sie besser kennen müssen. So leicht gab sie
nicht auf.

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