Runenschild
litt, und der Anblick fachte seinen Zorn erneut an. Er verzichtete jedoch auf jeden Kommentar, sondern schloss stattdessen mit ein paar raschen Schritten zu
ihr auf.
Als sie die halbe Strecke zum Tor hin zurückgelegt hatten, erscholl oben hinter den Zinnen ein überraschter Ruf,
und als Lancelot den Kopf in den Nacken legte, sah er
gerade noch, wie eine Gestalt herumfuhr und rennend aus
ihrem Sichtfeld verschwand. Nur einen Augenblick später
wurden andere, ebenfalls aufgeregte Rufe drinnen in der
Burg laut, und sie hatten noch keine fünf weiteren Schritte
zurückgelegt, als sich ein halbes Dutzend Gestalten unter
dem nur halb hochgezogenen Pfeilgatter hindurchbückten
und ihnen aufgeregt gestikulierend und rufend
entgegengelaufen kam.
Gwinneth runzelte die Stirn. »Was hat das zu bedeuten?«
Lancelot konnte nur mit den Schultern zucken. Nichts
Gutes, vermutete er. Während ihrer Abwesenheit musste
irgendetwas in der Burg geschehen sein, aber er hütete
sich diesen Gedanken laut auszusprechen, sondern beschleunigte stattdessen nur seine Schritte um eine Winzigkeit; nicht so sehr, wie er es gekonnt hätte, damit Gwinneth nicht zurückfiel oder – was schlimmer gewesen wäre
– sich bei dem Versuch noch mehr verausgabte, mit ihm
Schritt zu halten.
Es vergingen auch nur wenige Augenblicke, bis ihr
Empfangskomitee auf Rufweite herangekommen war.
Es handelte sich um ein halbes Dutzend Männer und
Frauen aus Tintagel – seltsam, dachte Lancelot, gut die
Hälfte von ihnen kannte er überhaupt nicht –, die von dem
grauhaarigen Iven angeführt wurden. Fünf Schritte vor
ihnen blieb er stehen, starrte einen Moment lang ihn und
dann viel länger und ebenso fassungslos wie erleichtert
Gwinneth an.
»Mylady!«, sagte er mit zitternder Stimme. »Ihr … Ihr
seid zurück!«
Gwinneth setzte zu einer Antwort an, doch Lancelot kam
ihr zuvor. »Natürlich sind wir zurück«, raunzte er. »Und
wir wären es schon eine ganze Weile eher gewesen, hätte
nicht jemand die Tür hinter uns verriegelt. Welcher Narr
war das?«
Iven löste mit einiger Mühe seinen Blick von Gwinneths
Gesicht. Lancelot hatte selten einen Ausdruck so völliger
Verständnislosigkeit in den Augen eines Menschen gesehen wie jetzt in den seinen. »Herr? Ich verstehe nicht …«
»Das würde ich an deiner Stelle auch nicht«, sagte Lancelot unfreundlich. Er machte eine herrische Geste, als
Iven etwas erwidern wollte, und fuhr lauter und mit noch
schärferer Stimme fort: »Aber das klären wir später. Lady
Gwinneth ist halb erfroren und müde von dem langen,
völlig unnötigen Weg. Jemand soll hineingehen und ein
heißes Bad vorbereiten.«
Niemand reagierte. Alle starrten Gwinneth und ihn nur
völlig verblüfft und mit offenkundiger Verständnislosigkeit an.
»Habt ihr mich nicht verstanden?«, fragte Lancelot.
Allmählich wurde er wirklich wütend. Es fiel ihm schwer,
Iven nicht einfach am Kragen zu packen und so lange zu
schütteln, bis dieser alte Narr verstand, was er von ihm
wollte.
Sein scharfer Ton fruchtete. Alle – bis auf Iven und eine
dunkelhaarige Frau, die zu denen gehörte, an deren Gesichter sich Lancelot partout nicht erinnern konnte –
wandten sich hastig um und kehrten fast fluchtartig dorthin zurück, wo sie hergekommen waren, und schließlich
geleiteten sie der alte Diener und die Frau in die Burg.
Als sie sich dem Tor näherten, ertönte das Klirren einer
rostigen Kette und das Fallgatter begann sich langsam und
quietschend nach oben zu bewegen. Sie gingen noch ein
paar Schritte, dann blieb Gwinneth plötzlich stehen und
gab einen überraschten Laut von sich.
»Was ist?«, fragte Lancelot alarmiert.
»Ich … irgendetwas stimmt hier nicht«, murmelte
Gwinneth.
Lancelot sah sie fragend an, dann folgte er ihrem Blick –
und auch zwischen seinen Augenbrauen erschien eine steile Falte. Gwinneth hatte Recht. Irgendetwas stimmte hier
ganz und gar nicht.
Durch das Torgewölbe hindurch konnten sie nur einen
kleinen Ausschnitt des Hofes erkennen, aber schon dieser
unterschied sich so sehr von dem Tintagel, das sie vor
wenigen Stunden verlassen hatten, wie es nur möglich
schien. Der Hof war von geschäftiger Aktivität erfüllt und
scheinbar auch von Menschen – viel mehr als eigentlich
da sein sollten. Aus nahezu jedem Kamin quoll Rauch und
sie hörten das helle Klingen von Hammerschlägen, das
Geräusch einer Säge, das Wiehern von Pferden. Der
Schnee, der noch am Morgen fast knöcheltief auf
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