Runenschild
er gerade draußen in den Gesichtern Ivens und
der anderen Diener gelesen hatte. Sean und sein Bruder
sagten die Wahrheit. Auch wenn es unmöglich war.
»Aber … aber das kann doch gar nicht … sein«, stammelte Gwinneth. Sie warf Lancelot einen Hilfe suchenden,
fast flehenden Blick zu. »Wir sind doch nur …«
Lancelot brachte sie mit einer raschen Geste zum
Schweigen. »Acht Wochen?«, vergewisserte er sich.
»Und drei Tage«, fügte Sean grimmig hinzu. »Es ist eine
Menge passiert in dieser Zeit. Nicht alles davon wird dir
gefallen.«
Lancelot atmete tief und hörbar ein. Für einen Moment
schien sich alles um ihn zu drehen und ein Gefühl von
Unwirklichkeit ergriff von ihm Besitz. Der logische Teil
seines Verstandes weigerte sich noch immer, Seans Worten Glauben zu schenken. Es war vollkommen unmöglich.
Sie waren nur wenige Stunden fort gewesen, allerhöchstem einen halben Tag. Und doch spürte er zugleich, dass
Sean die Wahrheit gesagt hatte. Plötzlich machte alles
einen Sinn. Der Sturm, der aufgehört hatte, Eis und
Schnee, die sich zurückgezogen hatten, das Meer, das nun
wieder ruhig dalag – der Winter war fast vorüber und lieferte sich nur noch ein vergebliches Rückzugsgefecht mit
dem Frühling.
»Vielleicht hast du Recht, Sean«, fuhr er nach einer Weile fort. »Wir hätten es dir sagen sollen. Es tut mir Leid.
Aber Gwinneth und ich …« Er schüttelte den Kopf und
warf Gwinneth einen fast beschwörenden Blick zu, ehe er
neu ansetzte. »Uns war beiden nicht klar, dass wir so lange
weg gewesen sind.«
Sean schwieg. Sein Blick war ein einziger Vorwurf.
»Ich erkläre euch alles später«, versprach Lancelot.
»Aber zuerst brauchen wir ein heißes Bad, frische Kleider
und eine warme Mahlzeit. Lady Gwinneth ist müde von
der Reise.«
»Ich werde alles vorbereiten lassen«, sagte Sean kühl.
»Doch ich bitte dich, dir nicht zu viel Zeit zu lassen. Es ist
eine Menge geschehen, solange ihr weg wart. Wir müssen
reden.«
Iven und seine Helfer hatten ein kleines Wunder vollbracht, denn als sie Gwinneths Kemenate betraten, brannte
dort nicht nur bereits ein gewaltiges Feuer im Kamin, das
für wohlige Wärme sorgte, sondern es war auch schon ein
Badezuber mit heißem Wasser bereitgestellt und eine der
Zofen hatte weiche Tücher und saubere, warme Kleidung
zurechtgelegt.
Gwinneth, die auf dem ganzen Weg herauf kein einziges
Wort gesagt hatte, schwieg auch jetzt, ließ jedoch ein erleichtertes Seufzen hören, streifte ihre Kleider ab und glitt
ins heiße Wasser, noch bevor die Zofe das Zimmer ganz
verlassen und die Tür hinter sich zugezogen hatte. Lancelot war ein wenig überrascht, aber er begriff auch, dass
Gwinneth nicht nur mindestens so bestürzt und durcheinander war wie er selbst, sondern vermutlich auch halb erfroren. Auch wenn draußen – warum auch immer – die
schlimmste Zeit des Winters vorüber sein mochte, so lagen die Temperaturen doch immer noch deutlich unter
dem Gefrierpunkt und sie hatten einen Marsch von gut
einer Stunde in bitterer Kälte hinter sich. Er überlegte einen Moment lang, zu ihr ins heiße Wasser zu steigen, beließ es dann aber dabei, sich umzudrehen und dicht genug
an den Kamin heranzutreten, um sich an den prasselnden
Flammen zu wärmen.
Lancelot war weit davon entfernt, zu verstehen, was passiert war. Es lag auf der Hand, dass es irgendetwas mit
Merlins Höhle zu tun hatte, mit diesem magischen Ort, auf
den sie unter so merkwürdigen Umständen gestoßen waren, aber das brachte ihn auch nicht weiter.
Vielleicht wollte er die Antwort auf all die Fragen, die
sich hinter seiner Stirn im Kreis drehten, auch gar nicht
wissen.
Es dauerte lange, bis die Wärme des Kaminfeuers die
lähmende Kälte aus seinen Gliedern halbwegs vertrieben
hatte. Er fror hinterher noch immer, aber längst nicht mehr
so grausam wie zuvor, und er fühlte sich plötzlich so müde, als sei er tatsächlich zwei Monate lang durch Eis und
Schnee gelaufen. Dennoch widerstand er der Versuchung,
zum Bett zu gehen und sich darauf auszustrecken – er
spürte, dass er auf der Stelle eingeschlafen wäre –, sondern trat stattdessen ans Fenster und blickte auf den Burghof hinab.
Zu sagen, dass sich die Burg verändert hätte, wäre eine
Untertreibung sondergleichen gewesen. Dies war ganz
eindeutig nicht mehr das Tintagel, das Gwinneth und er
vor einigen Wochen erreicht hatten – und auch nicht mehr
das, in das es sich danach verwandelt hatte. Dies war
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