Runenschild
dem Hof
gelegen hatte, war nahezu vollkommen geschmolzen.
»Das … ist sonderbar«, murmelte Gwinneth. Aber sie
klang eher beunruhigt als überrascht – und Lancelot erging
es ebenso.
Er hob die Schultern. »Denken wir später darüber nach«,
schlug er vor. »Mir ist kalt und dir sicher auch. Außerdem
bin ich hungrig.«
Gwinneth warf ihm einen irritierten Blick zu, widersprach aber nicht mehr. Als sie das Tor durchschritten und
auf den Hof traten, verstärkte sich das seltsame Gefühl in
Lancelot noch. Er wusste jetzt, dass sich deutlich mehr
Menschen auf Tintagel aufhielten, als es noch am vergangenen Abend der Fall gewesen war – und nicht nur das.
Die so überdeutlich sichtbaren Spuren des Verfalls und
des Alters waren zwar nicht völlig verschwunden, aber
kaum noch der Rede wert, und hätte er nicht gewusst, dass
es in nur einer Nacht und einem halben Tag vollkommen
unmöglich war, so hätte er geschworen, dass selbst der
größte Teil der Schäden an Mauerwerk und Zinnen beseitigt worden war. Was um alles in der Welt ging hier vor?
Dem hastig schlurfenden Iven folgend gingen sie weiter.
Als sie den halben Weg zum Haupthaus zurückgelegt hatten, wurde die Tür aufgestoßen und Sean und sein Bruder
Patrick stürzten heraus. Auch ihr Anblick überraschte
Lancelot. Er streifte Patrick nur mit einem flüchtigen
Blick, musterte Sean aber dafür umso aufmerksamer. Der
irische Hüne trug nicht mehr seine normalen derben Kleider unter einem Mantel aus Bärenfell, sondern schwarzes
Leder und poliertes Metall: Waffenrock und Rüstung eines
Ritters. Auf seinem Umhang, den er lose über die linke
Schulter geworfen hatte, prangte das Wappen Tintagels.
»Was soll denn diese Maskerade?«, murmelte Lancelot.
Auch Sean stockte mitten im Schritt, als er Gwinneths
und Lancelots ansichtig wurde, dann verdüsterte sich sein
Gesicht und er stürmte so rasch auf sie zu, wie es gerade
noch ging, ohne wirklich zu rennen. Lancelot setzte dazu
an, seine eher gemurmelte Frage laut zu wiederholen, aber
Sean kam ihm zuvor, indem er ihn mit einem ärgerlichen
Blick regelrecht aufspießte und dann – nur noch einen
Deut von wirklichem Schreien entfernt – anfuhr: »Wo seid
ihr gewesen?«
Brodelnder Zorn stieg in Lancelot empor. Er war verwirrt, durcheinander und verärgert und er hatte alles von
Sean erwartet, nur nicht diesen Ton – der ihm im Übrigen
nicht zustand.
»Ich wüsste nicht, was dich das anginge, Söldner «, entgegnete er scharf und in ganz bewusst verletzendem Ton.
»Aber falls du es unbedingt wissen willst: Lady Gwinneth
und ich haben einen Spaziergang am Strand entlang gemacht. Wir haben ihn nicht so lange geplant, aber jemand
war so freundlich, die Tür hinter uns zu verriegeln.«
Sean starrte ihn an. »Was?«
»Sean, was soll das?«, fragte Gwinneth. Sie machte eine
hilflose Geste. »Was ist hier los?«
»Was los ist?«, krächzte Sean. Sein Blick wanderte unstet zwischen Gwinneth und Lancelot hin und her, wobei
er Gwinneth verwirrt und bestürzt, Lancelot aber eindeutig
verärgert ansah. »Mylady, verzeiht, aber … es ist meine
Aufgabe, über Eure Sicherheit zu wachen. Wir waren in
großer Sorge um Euch.«
»Wir waren doch nur kurz weg.«
»Kurz.« Sean sprach das Wort auf eine eigenartige Weise aus; so als müsse er sich erst über seine wirkliche Bedeutung klar werden. »Verzeiht, wenn ich Euch widerspreche, Mylady – aber kurz würde ich Eure Abwesenheit
nun wirklich nicht nennen.« Er wandte sich wieder zu
Lancelot um, und sowohl der Ausdruck in seinen Augen
als auch der Klang in seiner Stimme änderten sich radikal.
»Es steht mir vielleicht nicht zu, zu fragen, wohin Ihr geht
und warum und für wie lange, Lancelot. Aber wenn ich für
eure Sicherheit verantwortlich sein soll, dann muss ich
wissen, wenn ihr auf Reisen geht.«
»Auf Reisen?« Lancelot lachte leise. »Kann es sein, dass
du deine Aufgabe ein bisschen zu ernst nimmst, Ire?
Schließlich waren wir nur …«
»… etwas länger als zwei Monate verschwunden«, fiel
ihm Patrick ins Wort.
Jetzt war es Lancelot, der sein Gegenüber völlig fassungslos anstarrte. »Wie bitte?«
»Acht Wochen und drei Tage um genau zu sein«, sagte
Sean. »Selbst in Irland ist das nicht das, was man unter
einem kurzen Spaziergang versteht.«
»Das ist ein Scherz«, sagte Lancelot. »Wir waren doch
nur …« Er brach ab. Es war kein Scherz. Was er in den
Augen der beiden Iren las, war eindeutig und es passte zu
dem, was
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