Runenschild
Hoffnung zu empfinden.
»Lass uns morgen darüber reden«, schlug er vor. »Es ist
spät. Morgen werden wir all unsere Kraft brauchen.«
Gwinneth machte tatsächlich zwei weitere Schritte
rückwärts ins Zimmer hinein, warf dann aber nur einen
langen Blick auf das aufgeschlagene Bett und schüttelte
den Kopf. »Ich kann nicht schlafen. Irgendetwas … nimmt
mir den Atem.«
»Dann lass uns hinuntergehen«, lenkte Dulac ein. »Das
Feuer im Kamin brennt sicher noch. Wir können uns ein
wenig aufwärmen.«
Gwinneth zögerte auch jetzt, aber schließlich nickte sie,
zog die Decke noch enger um die Schultern und warf einen raschen schuldbewussten Blick zum Fenster, ehe sie
herumfuhr und zur Tür ging. Dulac wusste nicht, wie lange sie dort gestanden und hinausgeblickt hatte, doch die
Zeit hatte gereicht, um es hier drinnen so kalt werden zu
lassen, dass er nicht weiter verwundert gewesen wäre,
hätte er Raureif an den Wänden entdeckt.
Als sie das Zimmer verließen, hörten sie Stimmen und
sahen Licht am anderen Ende des Ganges. Offensichtlich
waren sie nicht die Einzigen, die in dieser Nacht keinen
Schlaf fanden. Dulac zögerte einen winzigen Moment und
war drauf und dran, wieder kehrtzumachen, um einem
Gespräch mit Sean und den anderen zu entgehen. Doch da
Gwinneth weiterhetzte, blieb ihm nichts anderes übrig, als
seine Schritte ebenfalls zu beschleunigen, bis sie schließlich Seite an Seite durch die offen stehende Tür am Ende
des Flurs traten.
Der Ire wirkte kein bisschen überrascht, als er Gwinneth
und Dulac zu so später Stunde hereinkommen sah. Er unterbrach zwar sein Gespräch und runzelte flüchtig die
Stirn, stand dann aber wortlos auf und zog zwei weitere
Stühle vom Nachbartisch herbei, mit denen er die Runde
vergrößerte, die seine Brüder und er bildeten. Zu Dulacs
nicht geringer Überraschung zögerte Gwinneth nur ganz
kurz, der Einladung Folge zu leisten und Platz zu nehmen.
Er selbst warf einen raschen Blick in die Runde, bevor er
ihrem Beispiel folgte. Nicht nur die Iren, sondern auch der
Wirt und seine Frau waren trotz der vorgerückten Stunde
noch wach und standen hinter der Theke. Von Seans Brüdern waren nur drei anwesend, der jüngste sowie sein Onkel waren nicht da.
»Ihr könnt also auch nicht schlafen«, stellte Sean fest,
nachdem Dulac ebenfalls Platz genommen hatte. Er nickte, obwohl weder Dulac noch Gwinneth auch nur mit einer
Miene auf seine Worte reagiert hatten. »Nun ja, heute ist
ein großer Tag – besser gesagt: morgen. Wenn sich das
Wetter nicht drastisch verschlechtert oder etwas Unvorhergesehenes geschieht, dann werdet Ihr bald wieder in
Eurem Schloss sein, Mylady.«
Gwinneth reagierte ganz anders, als Dulac erwartet hatte.
Sie wurde nicht zornig oder zumindest abweisend, sondern
lächelte ganz im Gegenteil, und für einen winzigen Moment erschien in ihren Augen ein Glanz, den Dulac viel zu
lange vermisst hatte. Einen Herzschlag lang spürte er eine
absurde Eifersucht auf den Iren.
»Vielleicht wäre es besser, diesen Weg ausgeruht anzutreten«, sagte er deshalb schroffer, als es vielleicht nötig
gewesen wäre.
»Warum seid ihr dann nicht oben in euren Zimmer und
schlaft?«, erwiderte Sean lächelnd.
Dulac setzte zu einer ärgerlichen Antwort an, doch in
diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und Seans
jüngster Bruder stürmte herein. Die Köpfe aller Anwesenden fuhren mit einem Ruck herum und Sean war nicht der
Einzige, der ganz instinktiv nach seiner Waffe griff, bevor
er seinen Bruder erkannte.
»Was ist los?«, fragte er alarmiert.
Der junge Ire warf die Tür hinter sich zu, ohne jedoch
den Riegel vorzulegen. Er fuhr sich mit dem Unterarm
über das Gesicht, um den Schnee wegzuwischen, der in
seinen Augenbrauen und Bart klebte. »Was für ein Sturm.
Das müsst ihr euch ansehen!«, stieß er hervor.
Sean und seine Brüder waren bereits auf den Beinen,
doch nun sprangen auch Dulac und Gwinneth auf und versuchten direkt hinter den anderen aus dem Haus zu stürmen, sodass an der Tür ein regelrechtes Gedränge entstand. Aber auch nach Überwindung dieses Engpasses
hatten Dulac und Gwinneth noch nichts gewonnen, denn
die Iren blieben wie erstarrt nebeneinander stehen und
verwehrten ihnen so die Sicht. Als Dulac zwei Schritte
beiseite trat und endlich erkannte, was Seans Bruder so
sehr in Aufregung versetzt hatte, da verschlug ihm der
Anblick im wahrsten Sinne des Wortes den Atem.
Von dem Sturm, von dem Seans Bruder erzählt
Weitere Kostenlose Bücher