Runenschild
bist am Leben! Und unverletzt!« Sie küsste und herzte ihn ununterbrochen und mit solcher Kraft, dass ihm trotz der Rüstung,
die er trug, fast der Atem wegblieb, dann löste sie sich
plötzlich von ihm, trat auf Armeslänge zurück und sah ihn
mit großen Augen und mit neuem Schrecken an. Ihr Gesicht war so bleich wie der Schnee, der rings um sie herum
lautlos vom Himmel fiel. »Du bist doch unverletzt?«
»Mir fehlt nichts«, antwortete Lancelot. »Keine Sorge.«
Wenn er den Ausdruck in Gwinneths Augen richtig deutete, dann waren diese Worte eher dazu angetan, ihre Angst
noch zu schüren, statt sie zu beruhigen.
»Ich hatte solche Angst um dich«, stammelte Gwinneth.
»Ich war sicher, dass ich … dass wir uns nie wiedersehen.«
»Manchmal täuscht man sich eben«, sagte Lancelot leise.
»Aber wie hast du denn nur …« Gwinneth brach ab. Etwas Neues erschien in ihrem Blick und ihr ohnehin totenbleiches Gesicht verlor noch mehr an Farbe. Als Lancelots
Blick dem ihren folgte, sah er, was sie anstarrte. Es war
das Schwert an seiner Seite.
»Du … du hast es also getan«, murmelte sie. Lancelot
schwieg. »Du hast diese verfluchte Waffe benutzt. Du hast
Blut damit vergossen.«
»Und nichts ist geschehen«, antwortete Lancelot, laut
und mit einer Kälte in der Stimme, die ihn selbst erschreckt hätte, wäre er nur in der Lage gewesen, irgendein
Gefühl zu empfinden.
»Du hast es getan«, sagte Gwinneth noch einmal. Sie
klang unendlich traurig.
Sean, der mittlerweile ebenfalls herangekommen und
dicht hinter ihr stehen geblieben war, runzelte die Stirn
und sah Lancelot fragend an, und auch sein Bruder Patrick
wirkte auf schwer in Worte zu fassende Weise alarmiert,
aber Lancelot ignorierte die beiden.
Sein Blick blieb fest auf Gwinneth gerichtet. »Wie du
siehst, scheinen sich auch Hexen manchmal zu täuschen«,
fuhr er fort. »Ich bin weder zur Hölle gefahren noch habe
ich mich in einen zweiköpfigen Dämon verwandelt.«
Gwinneth starrte ihn an. Sie erwiderte nichts, doch ihre
Hände begannen kleine, nervöse Bewegungen zu machen,
und aus dem Schrecken in ihrem Blick wurde etwas anderes, Schlimmeres. Und plötzlich fuhr sie auf dem Absatz
herum und rannte fast so schnell über den Hof zurück, wie
sie gekommen war.
Sean blickte ihr verwirrt nach. Er machte einen Schritt,
als wolle er ihr folgen, zögerte dann jedoch und wandte
sich wieder ganz zu Lancelot um. »Was ist geschehen?
Was ist mit den Pikten?«
»Die sind keine Gefahr mehr«, antwortete Lancelot.
»Keine Gefahr …« Sean sog hörbar die Luft zwischen
den Zähnen ein. »Willst du damit sagen …« Wieder suchte er einen Moment angestrengt nach Worten. »Aber es
waren mindestens zwanzig!«
»Mehr«, sagte sein Bruder. »Wahrscheinlich doppelt so
viele.«
»Ich habe sie nicht gezählt.« Lancelot blickte Gwinneth
nach. Sie hatte die kurze Treppe zum Haupthaus hinauf
mittlerweile erreicht und überwand sie im Laufschritt und
immer zwei, manchmal sogar drei Stufen auf einmal nehmend. Nur einen Atemzug später war sie hinter der Tür
verschwunden.
»Aber das ist unglaublich«, murmelte Sean. Er schüttelte
immer wieder den Kopf. Lancelot hatte ihn selten so verstört und hilflos gesehen wie jetzt, während sein Bruder
eher misstrauisch wirkte. »Ein Mann allein …«
»Wer sagt, dass ich allein war?«, fragte Lancelot. Und
wer sagt, dass ich ein Mann bin? Wie hatte ihn der Pikte
genannt? Dämon?
Ohne Sean und seinen Bruder oder die Fassungslosigkeit
auf ihren Gesichtern noch eines einzigen Blickes zu würdigen, setzte er sich in Bewegung und ging auf die Tür zu,
die Gwinneth hinter sich offen gelassen hatte.
Der nächste Tag kam und war vorüber, noch bevor Lancelot ihn wirklich registriert hatte; geschweige denn dass er
sich daran zu erinnern vermochte. Er war in das Zimmer
gegangen, das ihm einer der Dienstboten zugewiesen hatte, und hatte sich auf dem weichen, mit kostbarem Damast
bedeckten Bett ausgestreckt, ohne indes auch nur eine
Sekunde Schlaf zu finden. Die ganze Nacht, den darauf
folgenden Morgen und selbst noch einen guten Teil des
Nachmittags blieb er allein in seinem Raum. Zwei- oder
dreimal klopfte es an seiner Tür und die schüchterne
Stimme eines Bediensteten fragte ihn, ob er irgendetwas
benötige oder Wünsche habe, aber er antwortete nicht darauf und nach einer Weile hörte er jedes Mal leise, sich
entfernende Schritte. Erst als die Sonne den Zenit bereits
überschritten hatte und die zweite
Weitere Kostenlose Bücher