Runenschild
sich mit einem demonstrativen Ruck ab, um
wieder aus dem Fenster zu blicken. Er wünschte sich, der
Ire würde wieder gehen. Er wollte ihn nicht sehen. Er
wollte nicht mit ihm reden. Er wollte überhaupt niemanden sehen und auch nie wieder mit irgendeinem Menschen
reden.
»Ich denke, ich bleibe bei Lancelot«, sagte Sean nachdenklich. »Es ist ein bisschen schwierig, sich immer zwischen zwei verschiedenen Namen entscheiden zu müssen,
je nachdem welche Kleidung du gerade trägst.«
Lancelot schwieg beharrlich. Ihm war klar, dass Sean
einfach drauflosplapperte, aus keinem anderen Grund als
dem, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber diesen Gefallen würde er ihm nicht tun. Er konnte sich ziemlich
genau vorstellen, worüber der Ire mit ihm reden wollte.
»Patrick und ich waren vorhin unten im Tal«, fuhr Sean
fort, als nach einer geraumen Weile klar wurde, dass Lancelot nicht antworten würde. »Wir haben uns das Lager
der Barbaren angesehen.«
»So?«, machte Lancelot.
Er konnte Seans Nicken hören. »Es ist niemand mehr
da.«
»Ich weiß«, sagte Lancelot knapp.
»Anscheinend hast du doch nicht alle erwischt«, fuhr
Sean fort.
Lancelot starrte noch einen Herzschlag lang weiter hartnäckig aus dem Fenster, dann aber drehte er sich um und
sah den Iren fragend an. »Was meinst du damit?«
»Wie gesagt, es war niemand mehr da«, antwortete Sean.
»Doch wir haben ihre Spuren gefunden. Bis auf ihre Pferde und Waffen haben sie alles zurückgelassen, auch die
Toten haben sie mitgenommen und die Verwundeten.«
»Es gab keine Verwundeten«, sagte Lancelot leise.
Sean sah nicht überrascht aus. Nur seine Augenbrauen
zogen sich ein winziges Stückchen weiter zusammen.
»Dann müssen es sehr viele Tote gewesen sein. Ich habe
schon die Spuren vieler Kämpfe gesehen, aber das dort
unten war eine Schlacht.«
Natürlich wusste Lancelot, was Sean mit seinem scheinbar so sinnlosen Geplapper bezweckte. Der Ire starb innerlich fast vor Neugier, zu erfahren, wie es ihm gelungen
war, nicht nur gegen eine so gewaltige Übermacht zu bestehen, sondern sie auch noch zu besiegen . Aber wie
konnte er ihm das sagen? Er schwieg weiter.
»Sollte ich Angst vor dir haben, Lancelot?«, fragte Sean.
Ganz bestimmt, dachte Lancelot. Jeder Mensch, der diesen Namen verdient, sollte das. Laut und mit einem angedeuteten, kalten Lächeln antwortete er: »Nur wenn du
mein Feind bist.«
»Und genau das weiß ich fast nicht mehr«, erwiderte
Sean und der Blick, mit dem er ihn dabei maß, jagte Lancelot einen eiskalten Schauer über den Rücken.
Natürlich hatte der riesenhaft gebaute Ire keine Angst vor
ihm; nicht vor dem schmalschultrigen, blassen Jungen, der
zitternd vor Kälte in eine Decke eingewickelt am offenen
Fenster stand. Aber er hatte Angst vor dem, wozu er werden konnte, wenn er es wollte. Oder vielleicht schon unwiderruflich geworden war.
»Lady Gwinneth ist seit gestern Nacht in ihrer Kemenate
und weint sich die Augen aus«, fuhr Sean fort. »Ich frage
mich warum, wo du doch lebend und unversehrt hier angekommen bist – gegen jede Wahrscheinlichkeit.«
»Vielleicht war es einfach zu viel für sie«, antwortete
Lancelot. »Sie ist eine Frau. Und sie hat viel mitgemacht,
seit wir Camelot verlassen haben.«
Sean ignorierte seine Antwort. Er wusste ebenso gut wie
Lancelot, wie unsinnig sie war. »Immerhin hast du mit
dem Anlegen der Rüstung das Geheimnis um den tapferen
Ritter gelüftet, der uns im Gasthaus gegen die Pikten beigestanden hat.« Er schüttelte in gespielter Verwunderung
den Kopf. »Ich wäre wahrscheinlich nie von selbst darauf
gekommen, dass Dulac und Lancelot ein und dieselbe Person sind – und das, obwohl du mir es selbst gesagt hast.«
»Du hast meine Worte für einen Scherz gehalten«, erinnerte ihn Lancelot.
»Allerdings.« Sean seufzte. »Wobei ich aber auch an einen Scherz glaubte, als du mir weismachen wolltest,
Gwinneth sei deine Schwester. Sir Lancelot und Lady
Gwinneth als wahrhaft würdiges Paar, dessen Liebe so
stark ist, dass sie König Artus und der ganzen Welt trotzen
– jetzt passt wenigstens alles zusammen.«
»Wenn du es sagst.«
»Und du mir nicht widersprichst. Doch im Grunde ist es
nicht das, was mich beunruhigt.« Nachdenklich und ohne
ihn direkt anzusehen fuhr Sean fort: »Den Weg hierher
haben wir mit dem Blut zwei meiner Brüder und des Bruders meines Vaters erkauft, Lancelot. Ich beginne mich zu
fragen warum.«
»Weil euch jemand dafür bezahlt hat«, erinnerte
Weitere Kostenlose Bücher