Runenschild
Verwunderung. Er konnte sich kaum erinnern, am vergangenen Abend so viele Stufen hinaufgegangen zu sein, doch das Zimmer befand sich hoch über
dem Innenhof Tintagels; drei oder vier Etagen, wenn nicht
mehr. Er konnte den gesamten Hof und einen Gutteil der
landwärts gerichteten Wehrmauern und -türme überblikken, und noch viel mehr als in der vergangenen Nacht
wurde ihm klar, wie gewaltig Tintagel war. Gestern Nacht
hatte er sie mit Camelot verglichen und geglaubt, dass sie
ihr an Größe nahe kam, aber das stimmte nicht. Uthers
Burg war deutlich größer und kam ihm auch weit wehrhafter und ausgeklügelter vor; wo Camelots Mauern ganz
dazu ausgelegt waren, einer großen Anzahl von Verteidigern Platz zu bieten, da bildeten die Wehrgänge, Zinnenkronen und Türme Tintagels ein ineinander geschachteltes
Labyrinth, das einem Angriff kaum ein klares Ziel bot und
ganz dazu gedacht schien, die Burg selbst mit einer Mindestzahl von Verteidigern gegen eine gewaltige Übermacht zu halten.
Lancelot verstand plötzlich, warum die Pikten ihr Lager
unten im Tal aufgeschlagen hatten, statt die Burg einfach
anzugreifen und zu erobern. Selbst wenn sie gewusst hatten, dass sie nur von einer Hand voll Frauen und alter
Männer bewohnt war, wäre ein Angriff auf dieses Bollwerk der reine Selbstmord gewesen. Allerdings wunderte
er sich ein wenig über sich selbst, dass er auf diese Gedanken verfiel, denn sie passten so gar nicht zu der Leere
und Mutlosigkeit, die ihn in den letzten Stunden erfüllt
hatten. Vielleicht lag es einfach daran, dass er sich umgezogen und gegessen hatte. Es mochten banale Handlungen
gewesen sein, aber der allergrößte Teil des Lebens bestand
aus banalen Dingen und vielleicht hatten ihm diese Kleinigkeiten geholfen, den Teufelskreis zu durchbrechen und
wieder ins Leben zurückzufinden.
Es klopfte. Lancelot nahm an, dass es der Diener war,
der zurückkam, um das Tablett zu holen und sich nach
seinen weiteren Wünschen zu erkundigen. Er hatte keine
Lust, mit dem Mann zu reden, denn es gab im Moment nur
einen einzigen Menschen auf der ganzen Welt, den er zu
sehen begehrte, und zugleich schreckte er vor einer solchen Begegnung zurück wie vor nichts anderem auf der
Welt. In der Erwartung, der Alte würde sich dann von alleine wieder trollen, schwieg er einfach.
Doch nach einem weiteren Moment wurde die Tür aufgerissen und er hörte Schritte, die fester und energischer
klangen als die des Dieners von vorhin. Widerwillig drehte sich Lancelot um.
Es war Sean. Der Ire hatte sich umgezogen und erschien
zum ersten Mal, seit Lancelot ihn kannte, nicht in der
Kleidung eines Kriegers, sondern trug ein lose fallendes
Kleid, das von einem breiten Ledergürtel um die Hüften
zusammengehalten und mit feinen Goldstickereien verziert war und außerdem um mindestens drei Nummern zu
klein war. Lancelot vermutete, dass es Uther gehört hatte.
Er hatte das Haar zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden und sich offensichtlich auch den Bart stutzen lassen, was ihn um zehn Jahre jünger aussehen ließ.
Vielleicht erblickte Lancelot ihn jetzt das erste Mal so, wie
er wirklich aussah.
»Ich darf doch eintreten … Herr?«, fragte Sean.
Lancelot antwortete immer noch nicht, sondern sah den
Iren nur ausdruckslos an, aber Sean wertete sein Schweigen ganz offensichtlich als Zustimmung, schob die Tür
mit dem Fuß hinter sich zu und machte zwei weitere
Schritte in den Raum herein, bevor er stehen blieb und
sich übertrieben auffällig umsah. Schließlich nickte er. »In
der Tat, ein Zimmer, wie es einem König zusteht«, sagte
er anerkennend. »Der Raum, den man mir zugewiesen hat,
ist nicht einmal halb so groß. Dafür brennt allerdings ein
Feuer im Kamin.«
»Was willst du?«, fragte Lancelot unfreundlich. »Wenn
dir kalt ist, geh zu deinem Kaminfeuer zurück. Ich lege
keinen Wert auf Gesellschaft.«
»Darauf bin ich schon von selbst gekommen.« Sean
machte keinerlei Anstalten, Lancelots kaum missverständlicher Aufforderung nachzukommen, sondern verschränkte im Gegenteil die Arme vor der Brust und bedachte ihn
mit einem Blick, von dem sich Lancelot nicht im Klaren
war, ob er abschätzend, missbilligend oder mitfühlend
war. Vielleicht schwang von alldem ein bisschen darin
mit. »Wir müssen miteinander reden, Lancelot – oder soll
ich lieber Dulac sagen, jetzt, wo du nicht mehr deine Rüstung trägst?«
»Ganz wie es dir beliebt.« Lancelot hob die Schultern
und wandte
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