Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
Gotharnar gleitet. Diesmal ist das Gefühl noch ungemein stärker, nicht nur das oberflächliche Lauschen auf eine Brandung von Stimmen und das wohltuende Gefühl einer Gemeinschaft, einer Blutsfamilie, sondern ein tiefes Sellarat mit so vielen Wesen zur gleichen Zeit, wie er es bisher noch nie erfahren hat.
Er teilt ihre Geschichte.
So blitzschnell wie nur Gedanken reisen können, rasen Bilder und Empfindungen durch seinen Geist, von der Ankunft der Endarin in Runland, Rians Verrat und Olárans Verschwinden. In Windeseile erlebt er den Fortgang derer, die fern von ihren Brüdern und Schwestern in den Mondwäldern Eilond gründeten, und den Bau von Mendaris in den Tiefen des Meeres. Er fühlt die tiefe Trauer der Antara, die über die Liebe zu dieser Welt hinweg ihr Dasein als beständiger dunkler Klang durchzieht, oft kaum vernehmbar, aber dennoch immer vorhanden. Ihre Sehnsucht, nach Hause zurückzukehren, eines Tages den blutroten Himmel von Vovinadhár wiederzusehen, mischt sich mit der Seinen. Doch er darf sich nicht von ihrem Schmerz überwältigen lassen. Er hat sich eine Aufgabe gestellt, die es zu erfüllen gilt! Mit eiserner Entschlossenheit wendet er sich von dem Sturm der Bilder und Gefühle ab, um nur dessen Stärke zu nutzen, auf ihm zu reiten und sich von ihm fortschleudern zu lassen, weg von Mendaris, weg von Eilond und hin zu seiner Schwester Manari, die irgendwo fern von dieser Unterwasserzuflucht in Runlands Norden nach den beiden verbliebenen Wächterdrachen sucht.
Plötzlich ist ihm, als glitte sein Körper in ein heißes Bad. Er spürt jene andere Serephinfrau, die er sucht, und deren Lebenskraft ihm seit dem Tag seiner Geburt so vertraut ist wie die Züge seines Gesichts. In dieser so wohlbekannten Wärme verschmilzt sein Verstand mit ihrem, aber noch immer kann er wie von fern den wehmütigen Klang der Ainsarii vernehmen. Sie haben sich nicht von ihm gelöst, sondern helfen ihm mit ihrer Magie, unterstützen ihn darin, tiefer als je zuvor in Manaris Geist einzudringen, ohne dass sie seine Anwesenheit bemerkt.
Er sieht durch ihre Augen eine verschneite Landschaft. Weit im Norden wird der Horizont von einer dunklen Gebirgskette eingegrenzt, dazwischen erstreckt sich eine flache Hochebene. Außer frisch gefallenem Schnee erkennt Alcarasán breite, dunkle Flecken stehenden Wassers und windgebeugte Birken. Um seine Schwester herum hat sich eine Anzahl von Serephinkriegern gruppiert. Es ist der größte Teil der Streitmacht, die er in Carn Taar getroffen hat. Noch vor kurzem haben sie nahe der Mondwälder den Drachen des Feuers besiegt, wenn auch nicht wenige von ihnen dabei ihr Leben ließen. Nun hat Manari sie über das Gebirge und in die Hochebene von Tool geführt.
Zu Fuß, um Kräfte für den bevorstehenden Kampf gegen den Wächter zu sparen, dringen sie nacheinander tiefer und tiefer ins Herz der Toolmoore vor. Jene Reihe von Wanderern mit einem tödlichen Auftrag schweigt.
Einzig Dampfwölkchen beim Atmen entlassen ihre Münder in die kalte, klare Luft unter dem blassen Winterhimmel, der so verkehrt für diese Jahreszeit ist wie die Anwesenheit der echsenhäutigen Krieger auf dieser Welt. In deren Frühling, vor langer Zeit, weiter noch zurück liegend als das Zeitalter, an das sich die Temari als die ›Alten Tage‹ erinnern, breitete sich in diesem Gebiet ein weitläufiger See aus. Zahllose Reiher, Kraniche und Wildgänse bevölkerten seine schilfüberwucherten Ufer.
Doch nichts unter dem Himmel bleibt auch nur einen Moment lang wie es einmal war, und heute ist von diesem See nur noch eine riesige Sumpflandschaft übrig. Vor wenigen Wochen hingen Wolken von winzigen Mücken und Eintagsfliegen über dem Wasser. Diese Quälgeister hat der Wetterumschwung längst hinweggefegt, und die Vögel haben sich nach Süden davongemacht, in der Hoffnung, dort dem eisigen Klima zu entgehen.
Der Wächter allerdings hat trotz des Wintereinbruchs sein Lager nicht verlassen. Nicht einmal die allmähliche Versumpfung eines der größten Seen von Runland konnte ihn dazu bringen, seine Behausung aufzugeben, solange an diesem Ort noch genügend von dem Element vorhanden ist, aus dem er seine Kraft bezieht. Aber er ist nicht mehr so stark, wie er einmal war, als diese Gegend vom Rauschen der Wellen und den Schreien der Wasservögel widerhallte.
Manari spürt, dass sie sich ihm Schritt für Schritt durch das winterliche Moor nähern. Sie ist angespannt und auf der Hut. Dennoch bemerkt sie nicht, dass
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