Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
ihren Scheiden. »Für das Volk unter dem Berg!«, wiederholten sie mit ihren rauen Stimmen, die wie Donnerhall von den Wänden zurückgeworfen wurden. Der Herr von Goradia schwieg und stand reglos in ihrer Mitte. Deneb, der mit Alfaard Rotgar folgte, sah im Gehen, wie dem alten Mann Tränen über die Wangen liefen. Doch davon abgesehen war sein schmerzerfülltes Gesicht reglos. Kein Wort kam über seine Lippen. Erst als beinahe alle aus der Gruppe von Kriegern, die sich Rotgar angeschlossen hatte, das Tor durchschritten hatten und in den kalten, hellen Wintertag hinausgetreten waren, entrang sich König Sveins Stimme ein verzweifelter Schrei.
»Lebe wohl, mein Sohn!«
Niemand drehte sich um. Keine Antwort ertönte. Nur das Knirschen der Stiefel im Schnee war zu hören. Die Gruppe der Verbannten mit dem Temari in ihrer Mitte hatte Goradia verlassen.
21
Der gleißende Lichtblitz war schneller verschwunden als das matte Nachbild, das vor Enris’ Augen hing und noch eine Weile nicht weichen wollte, egal wohin er seinen Kopf wandte. Beinahe wäre er rückwärts ins kalte Wasser der Zisterne gestürzt, aber Neria stützte ihn gerade noch rechtzeitig. Sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihm ins Herz schnitt.
In wenigen Stunden wird sie mit Suvare in See stechen.
Er bemühte sich, halbwegs sorglos zurückzulächeln, aber es gelang ihm nicht besonders. Eher wirkte es, als ob seine Mundwinkel nervös zucken würden. Neben ihm standen Suvare und Corrya auf dem steinernen Rand der Wasserbeckens. Beide ruderten mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Hinter ihnen leuchtete das Wasser noch immer, ohne dass der Schein aus seiner Tiefe abnahm.
»Alle Wetter, ihr seid wieder da«, ertönte eine Stimme. Sie gehörte Teras, der begeistert auf sie zuschritt. Suvare sprang vom Rand des Quelors auf den Boden der Plattform hinab. Bevor sie es sich versah, hatte der alte Bootsmann sie gepackt und an sich gedrückt. Das Leder seines steifen Mantels knarrte hörbar.
»Ist ja gut, ist ja gut«, murmelte sie, etwas verlegen über seinen Gefühlsausbruch. Teras ließ sie unvermittelt los, selbst ein wenig peinlich berührt. Enris stieg ebenfalls vom Steinrand des Beckens herab. Er hob den Kopf und sah, dass die Sonne hoch am Himmel stand. Einzelne Schneeflocken tanzten durch die blasse, kalte Luft, die seinen Atem vor dem Mund sichtbar machte. Erleichterung wärmte seine Brust. Es war nur eine Sonne, und diesen Ring aus Felszacken um sich herum kannte er – sie waren wieder zurück in Runland!
»Wie konntet ihr nur einfach so verschwinden«, beschwerte sich Teras unterdessen mit vorwurfsvoller Miene bei seinem Khor. »Wir waren halb verrückt vor Sorge! Habt ihr denn wenigstens die Dunkelelfen gefunden?«
Suvare nickte. »Ay, wir waren in Eilond. Und die Antara werden uns helfen. Lass uns zu den anderen gehen, damit wir euch erzählen können, was inzwischen passiert ist.«
»Ich bin schon so gespannt darauf, alles zu hören«, freute sich Teras. Er zwinkerte Enris und Neria zu. »Und dass ihr beide wohlbehalten wieder hier seid, freut mich besonders. – Mädchen, als ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du in Wolfsgestalt von Bord gesprungen.«
»Habe ich jemanden verletzt?«, fragte Neria erschrocken.
»Nein, keine Sorge«, sagte der Alte gutmütig. »Aber an deiner Stelle würde ich Calach aus dem Weg gehen. Dem hast du den Schreck seines Lebens verpasst.«
Teras führte sie die Treppe hinab in die Höhle, die von Shartans Piraten als Lager benutzt worden war. Suvares Männer hatten am Eingang zum Strand ein großes Lagerfeuer entzündet, das sie selbst jetzt am Tag in Gang hielten, um die Kälte zu vertreiben, die Irteca seit dem Einbruch des Winterwetters heimsuchte. Mit großem Hallo umringten die Anwesenden Enris und Suvare, als diese mit Neria, Corrya und Teras in der Höhle auftauchten. Selbst die Voronfrau wurde freudig begrüßt, als fiele es ihnen einfach zu schwer, die schwarzhaarige junge Frau in der rostfarbenen Tunika, die ihr die Antara überlassen hatten, mit dem riesigen Wolf in Verbindung zu bringen, der noch vor wenigen Nächten das Deck der Tjalk verwüstet hatte. Nur Calach und Daniro hielten vorsichtshalber gebührenden Abstand zu ihr. Der Schiffskoch musterte sie sogar so unverblümt argwöhnisch, als hätte er es nur zu gerne gesehen, wenn diese unheimliche Frau mit den gestaltwandlerischen Fähigkeiten bei den Sagenwesen aus den Alten Tagen geblieben wäre.
Themet und Mirka
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