Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
und lief, ohne jemals an irgendein Ziel zu gelangen. Mit jeder weiteren Meile, die sie hinter sich zurückgelegt zu haben glaubte, ohne einen anderen Raum in der Festung erreicht zu haben, wuchs diese Angst in ihr. Doch sie weigerte sich standhaft, sich von jenem Gefühl übermannen zu lassen.
Um nicht völlig zu verzweifeln, zwang sie sich, nicht mehr in die Ferne zu blicken, wo sich der Gang vor ihr schier endlos in die Weite zog, sondern nur auf ihre Füße, die ihr mit ihrem ständigen Voranschreiten wenigstens den Anschein gaben, sie würde sich auf ein Ziel zu bewegen. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entkam ihr, als sie nach einer gefühlten Ewigkeit in wenigen Fuß Entfernung eine Weggabelung erkannte, die erste Veränderung ihrer Umgebung, seitdem sie die Schicksalsfestung betreten hatte. Sie war zu froh darüber, um sich lange mit der Frage aufzuhalten, wie diese Gabelung vor ihr einfach so aus dem Nichts hatte auftauchen können.
Carn Wyryn ist lebendig , flüsterte etwas in ihr am Rande ihres Bewusstseins. Vielleicht sind dieser Ort und Cyrandith eins, jeder ihrer Atemzüge eine Veränderung des Ortes, den ich durchwandere.
Sie hatte die Gabelung erreicht und hielt an. Ein Gang erstreckte sich, so weit das Auge wahrnehmen konnte, nach links, der andere nach rechts.
Das macht meine Suche nicht einfacher. Wie soll ich denn jetzt wissen, welchen Weg ich gehen muss?
Eine Weile stand sie unschlüssig da und blickte angestrengt in beide Richtungen, in der vagen Hoffnung, weiter in der Ferne etwas erkennen zu können, das ihr die Entscheidung erleichtern würde.
Da kam ihr eine Idee. Sie legte das Band mit Sarns Fingerknochen ab und hielt es zwischen ihren Fingern. Dieses Geschenk der Hexe hatte sie schon einmal gerettet. Mit seiner Hilfe hatte sie sich wieder erinnert, als sie schon fast vergessen hatte, wer sie war, und sich um ein Haar in ein Geschöpf des Abyss verwandelt hätte, eine lebende Tote. Vielleicht konnte der Knochen ihr hier erneut gute Dienste leisten.
Sie trat einen Schritt in den rechten Gang und hielt den Anhänger vor sich. Es geschah nichts weiter.
Kein Problem , beruhigte sie sich. Du weißt ja noch nicht einmal, worauf genau du achten musst. Da ist noch ein zweiter Gang.
Mit aufgeregt klopfendem Herzen wandte sie sich dem Gang zu ihrer Linken zu. Sofort bewegte sich der Knochen an seinem Band kaum merklich in die Richtung, in die der Weg verlief, als zöge ihn etwas. Neria drehte sich mitsamt des Anhängers um, und der Knochen hing wieder senkrecht.
Also gut, das war deutlich. Sarn, das müsstest du jetzt sehen. Dein abgeschnittener Finger weist mir den Weg.
Sie lief den Gang entlang. Bald geriet sie an eine weitere Kreuzung. Erneut ließ sie den Anhänger baumeln. Diesmal wies der Knochen in den rechten Gang. Sie folgte ihm, nur um sich nach kurzer Zeit wieder vor einer Weggabelung zu befinden.
Alle Wetter, das wird hier ja zum reinsten Irrgarten! Gut, dass ich den Knochen habe.
Sie schritt von einer Kreuzung zur nächsten, die sich nun, nach dem langen Weg in einer Richtung, in rascher Folge abwechselten. Irgendwann fragte sie sich, wie lange sie wohl schon durch dieses Gewirr von Gängen lief. Sie fühlte keinen Hunger, also konnte sie doch kaum länger als einen Tag unterwegs gewesen sein. Andererseits wies die enorme Anzahl der Kreuzungen, an denen sie Sarns Fingerknochen hervorgeholt hatte, darauf hin, dass sie bereits sehr lange unterwegs war. Dennoch zwang sie sich, nicht aufzugeben. Der riesige Irrgarten musste in die Mitte der Schicksalsfestung führen. Sie durfte nur nicht die Hoffnung verlieren.
Viel schwerer für sie war es, nicht daran zu denken, dass sich ihre in Runland zurückgebliebenen Kameraden auf sie verließen. Ob es ihnen bisher geglückt war, den letzen Wächterdrachen zu beschützen? Oder hatten die Serephin ihn bereits gefunden und getötet?
Denk nicht darüber nach, dummes Ding , schalt sie sich. Du hast keinen Einfluss darauf, was in Runland geschieht. Denk nur an deine Aufgabe und vertraue darauf, dass Enris und die anderen die ihre tun.
Dennoch war es nicht einfach für sie, diese bedrückenden Überlegungen beiseitezuschieben. Wieder und wieder erschienen sie an der Oberfläche ihres Verstandes, der sich angesichts der immer gleichbleibenden Gänge um sie herum sofort mit ihnen beschäftigte, nur um sie nach einiger Zeit wieder untertauchen zu lassen, wenn ihm die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens auffiel.
Neria war so in Gedanken
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