Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
vertieft, als diese düsteren Bilder wieder einmal in ihr frische Farben gewannen, dass sie das Ende des langen Weges erst bemerkte, als sie beinahe über die Beine eines Fremden stolperte. Erschrocken hielt sie an. Im ersten Moment hielt sie den Mann, der vor ihr auf dem Boden hockte, für eine Einbildung, eine Gestalt aus ihren Erinnerungen. Doch als sie genauer hinblickte, wurde ihr bewusst, dass er so wirklich war wie sie selbst.
Der Unbekannte mochte gute sechzig Winter alt sein. Er besaß graues Haar und einen ebenso eisgrauen kurz geschorenen Bart. Seine braune Robe war zerschlissen und fleckig, aber Neria konnte noch erkennen, dass die Kleidung des Fremden einmal aus teurem Stoff bestanden hatte. Der Mann saß am Ende des Gangs und lehnte mit seinem Rücken an einer niedrigen, eisenbeschlagenen Tür, die fast dessen gesamte Breite ausmachte. Seine Augen waren geschlossen.
Neria betrachtete ihn schweigend. Allmählich ließ ihre Verblüffung nach. Plötzlich schlug der Grauhaarige die Augen auf und sah sie an.
»Es gehört sich nicht, jemanden so anzustarren. Besonders nicht alte Leute, die versuchen, ein Nickerchen zu machen.« Seine Stimme klang tief und brummig.
»Ein Nickerchen?«, entfuhr es der völlig überraschten Neria. »An diesem Ort?«
»Warum nicht?«, gab der Alte zurück. »Wenn du solange durch diese Gänge geirrt wärst, wie ich, dann wär dir das auch egal.«
»Wie lange bist du denn schon hier?«, wollte Neria wissen.
Der Fremde kratzte sich hörbar am Kinn. »Keine Ahnung. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Deshalb denke ich, dass ich mich schon lange in der Schicksalsfestung aufhalten muss.«
»Die Schick – es ist also tatsächlich die Schicksalsfestung!«, rief Neria. Die Aufregung in ihrer Stimme war unüberhörbar.
»Natürlich ist es die Schicksalsfestung, Mädchen! Sag bloß, du wüsstest das nicht. Wem es gelingt, Carn Wyryn zu finden, der weiß für gewöhnlich, was für ein Ort das ist.«
»Natürlich weiß ich es«, sagte Neria ungeduldig. »Aber ich konnte mir bis zuletzt nicht völlig sicher sein. Niemand hat mich am Eingangstor begrüßt und zu mir gesagt: Willkommen! Du betrittst jetzt das Reich der Träumenden Cyrandith.«
»Du bist also durch ein Eingangstor gekommen«, stellte der Fremde fest.
Neria nickte. Ihr fiel auf, dass der Mann sie nicht auf ihre blutroten Augen angesprochen hatte, wie so ziemlich jeder Temari, dem sie bisher begegnet war. »Wie seid Ihr denn hierher gelangt, wenn nicht auf diese Weise?«
»Ich kann es nicht genau sagen«, sagte der Alte achselzuckend. »Ich besaß Schwingen. Ich flog, wie ein Raubvogel. Wie ein ... ein Falke. Um mich herum herrschte Dunkelheit. Dann fand ich mich hier wieder. Ich fühlte mich, als ob ich aus einem tiefen Schlaf erwacht wäre.« Er deutete auf eine schwarzbraune Feder, die in seinem Schoß lag. »Sie hat mir geholfen, mich an alles zu erinnern, an meine Harfe mit dem Falkenkopf, an mein menschliches Leben.«
»Wie heißt Ihr?«, fragte Neria.
»Mein Name ist ... Margon«, sagte der Alte erleichtert lächelnd nach einem Moment des Zögerns. »Ein Glück, dass du mich gefragt hast. Ich hätte es beinahe wieder vergessen. An diesem Ort lösen sich Erinnerungen sehr schnell auf.«
Die Wolfsfrau war überrascht einen Schritt zurückgetreten. » Ihr seid der Magier, der in der Meeresburg gelebt hat?«
Margon sah sie neugierig an. »Du weißt von mir?«
»Enris hat mir alles von Euch erzählt!«
»Dann hast du mir etwas voraus. Ich kenne dich nicht. Wer bist du, und was willst du in Carn Wyryn?«
Neria hatte kaum auf die Frage des Mannes geachtet. »Aber – Ihr seid doch gestorben. Enris hat gesagt, Ranár hätte Euch in dem Quelor getötet. Wie kann es sein ...«
Sie sprach nicht zu Ende. Um ihrer Verblüffung Ausdruck verleihen zu können, fehlten ihr die Worte.
»... dass ich dir hier gegenübersitze und mit dir spreche?«, vollendete Margon ihren Satz. Er lächelte bitter. »Egal wer du auch bist, junge Frau, du und ich haben eines gemeinsam – wir sind weder am Leben noch tot.«
Neria war wie vom Donner gerührt. »Was? Wie meint Ihr das?«
»Wer in den Abyss vordringt, um Carn Wyryn zu finden, geht über die Grenzen allen Lebens hinaus. Verstehst du? An diesem Ort werden die Schicksale allen Lebens in allen Welten gewebt. Hier lassen sich die einzelnen Fäden neu verknüpfen. Hier entsteht neues Leben aus dem Alten, wie es seit Anbeginn aller Zeit auch in dem Wald geschieht, der dein
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