Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
entkam ein Knurren. Er stieß den jungen Mann von sich. Enris schlitterte blind über den Boden des Spiegelsaals und prallte gegen eine Wand. Er rieb sich wie wild die Augen, um wieder sehen zu können. Die fernen Schreie nahmen an Lautstärke zu. Er glaubte Waffenlärm zu hören. Als sein Blick wieder klar wurde, stand Jenasar mit gezogenem Schwert über ihm. Die Augen traten dem Krieger aus den Höhlen, und er schwankte, als ob sich der Boden des Saals in das Deck eines Schiffes auf hoher See verwandelt hätte. Immer noch spritzten einzelne Blutfontänen aus der klaffenden Wunde an seinem Hals. Die Spiegelscherbe war fort. Enris starrte wie gelähmt auf die Klinge, die gleich auf ihn hinabfahren würde. Doch Jenasar führte seinen letzten Schlag nie mehr. Das Schwert fiel ihm aus der Hand und schlug klirrend dicht neben Enris auf. Der Serephin folgte seiner Waffe nur um einen Augenblick später. Röchelnd brach er in die Knie und fiel seitwärts zu Boden. Seine immer noch überquellenden Augen hielten Enris gefangen, während sich eine dunkle Blutlache um seinen Kopf bildete. Der junge Mann konnte seinen Blick nicht von diesen stechenden goldenen Augen abwenden. Ihm war, als versuche Jenasar mit aller Kraft, nicht aus dem Leben zu scheiden, bis zum letzten Atemzug gegen das närrische Schicksal anzukämpfen, das ihn durch die Hand eines wertlosen Temari ereilt hatte. Der Serephin bewegte leise die Lippen, doch was auch immer es war, das er sagen wollte, seine letzten Worte blieben ein Geheimnis. Dann schlossen sich seine Lider.
Im selben Moment verblasste der Spiegelsaal um Enris herum. Er sah sein eigenes verwirrtes und blutbespritztes Gesicht an der Wand vor sich zerfließen. Dahinter schälten sich die Umrisse eines weiteren Raumes heraus. Ein Fenster mit weit geöffneten Läden gab den Blick auf den morgendlichen, grauen Winterhimmel frei, schiefe hölzerne Regale voller Bücher und Schriftrollen nahmen Gestalt an, während die verspiegelten Wände des Ortes, von dem aus Manari und Jenasar Hagonerin beherrscht hatten, verschwanden. Gleichzeitig schrumpfte der Raum um Enris herum und nahm wieder die Größe des Turmzimmers an, in dem dieser mit Margon und Thaja zusammengesessen und zum ersten Mal von den Serephin gehört hatte.
Er griff nach den Spiegelscherben auf dem Boden, doch vergebens. Auch diese waren durchsichtig geworden und ließen sich von ihm nicht mehr anfassen und aufheben. Binnen weniger Momente hatten sie sich ebenfalls aufgelöst. Nur er und die beiden Leichen vor ihm auf den mit Teppichen ausgelegten Holzbohlen des Turmzimmers waren noch von dem Ort übrig geblieben, an dem sich bis vor wenigen Momenten ein weitläufiger Thronsaal befunden hatte.
Waffenlärm drang von weiter unten an Enris’ Ohr, und er sprang auf. Beinahe wären ihm die Beine eingeknickt, aber er hielt sich gerade noch an dem größeren der beiden Tische in der Mitte des Zimmers fest, die ebenfalls wieder sicht- und greifbare Gestalt angenommen hatten. Sogar die halb aufgerollte Karte von Runland lag noch auf ihm, als wäre sie niemals fort gewesen.
Bestimmt war sie das auch nicht , schoss es Enris durch den Kopf. Sicher war sie ständig hier. Aber wenn der Spiegelsaal nur aus meiner Einbildung bestand, womit habe ich dann Jenasar getötet? Etwa auch mit meiner Einbildung?
Verwirrt schüttelte er den Kopf. Die Verborgenen Dinge konnten einen wirklich an seinem eigenen Verstand zweifeln lassen, wenn man zu lange über sie nachdachte.
Auf dem Weg hinaus fiel sein Blick noch einmal auf den toten Krieger am Boden. Das Gesicht des Leichnams war von ihm abgewandt. Enris hielt inne. Frischer Zorn brandete in ihm empor. Dieser abscheuliche Serephin hatte Sareth gegen ihn aufgehetzt. Er hatte sie beide sich ineinander verbeißen lassen wie zwei Kampfhunde und sich daran geweidet!
Wegen dir habe gerade jemanden umgebracht. Aber verlass dich darauf, ich werde mich nicht in so etwas wie dich verwandeln. Ich töte, wenn ich es nicht vermeiden kann – so wie Neria, wenn ihre Natur es von ihr verlangt. Falls ich dabei jemals Freude empfinden sollte, dann bringe ich mich lieber um, als so ein krankes, verdrehtes Ding zu werden wie du.
Enris bückte sich und packte das Schwert des Toten. Die Tür erzitterte in ihrem Rahmen, als er sie mit voller Wucht hinter sich zuschlug.
Er eilte den steinernen Gang hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Der Kampflärm nahm mit jeder Wendung der Treppe zu. Er vernahm das Klirren von
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