Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
nachtschwarzen Himmel funkelte das Sternbild der Krone des Nordens.
Sie fuhr herum und starrte in den leeren Raum.
»Gut, du hast mich also ständig beobachtet«, sagte sie laut. »Warum zeigst du dich nicht endlich, damit wir miteinander reden können?«
Ihre Stimme verhallte. Niemand antwortete, und in der Mitte des Raumes stand der massive schwarze Thron leer und verlassen. Langsam ging Neria auf das Ungetüm zu. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich von ihm angezogen. Es war der einzige Gegenstand in dem weitläufigen Saal. Sie beschloss, ihn sich genauer anzusehen.
Sie hielt vor der ersten Stufe inne und blickte zu dem Sitz hinauf. Fast hatte sie erwartet, inzwischen jemand dort sitzen zu sehen, aber er blieb weiterhin leer.
Warum habe ich das Gefühl, dass die Antwort auf dieses Rätsel genau vor meinen Augen liegt? Ich übersehe ständig etwas – aber was ist es, das mir entgeht?
Eine Erinnerung blühte in ihr auf – die Vielzahl der flüsternden Stimmen, als sie Carn Wyryn betreten hatte.
Dein Entschluss webt deinen Faden. So ist es immer gewesen, und so wird es immer sein.
Und endlich verstand sie. Die Erkenntnis traf sie mit solcher Gewalt, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie wischte sie geistesabwesend fort und setzte einen Fuß auf die erste Stufe des Throns.
Sofort begann der Boden unter ihren Füßen zu vibrieren. Eine Welle von Hitze durchströmte ihren Körper. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, und einen Lidschlag lang glaubte sie, dass sie mit dem nächsten Atemzug ihren Wolfskörper annehmen würde. Doch die Verwandlung setzte nicht ein, wenn sie auch die Empfindung überkam, dass sich ihre Sinne so außerordentlich schärften wie zu den Zeiten als Wölfin, an die sie sich dunkel erinnern konnte. Nach einem kurzen Moment des Zögerns stieg sie weiter die Treppe auf dem Thron empor. Ihr war, als ob sich der Raum um sie herum kaum merklich bewegen würde, wie der Körper eines lebendigen Wesens beim Aus- und Einatmen im Schlaf.
Wieder schwindelte ihr, und es wurde ihr kurz schwarz vor Augen, doch entschlossen ging sie weiter. Ein Brausen wie ein heulender Sturm stieg um sie herum auf, hervorgerufen von einer Unzahl von Mündern, die einen ohrenbetäubenden Gesang anstimmten, von Leidenschaft und Blut, vom unbändigen Drang des Hasses und der noch rücksichtloseren Gewalt der Liebe, die alle Hindernisse aus dem Weg schleuderte, um sich zu verströmen und sich in unendlicher Vielfalt neu zu erschaffen. Das donnernde Lied verwandelte sich in Nerias Geist zu einem pulsierenden roten Strom, der in dem Sitz des Thrones über ihr seine Quelle besaß und sich an ihr vorbei die Stufen hinunter und weiter zu allen Zeiten und in alle Welten ergoss, sie erschaffend und mit feurigem Leben erfüllend.
Sie stand nun vor dem pechschwarzen, steinernen Sitz, schwankend, tränenüberströmt, ein blasses Mädchen in einem abgetragenen, einstmals makellosem Kleid, das weiter von zu Hause entfernt war als sie es sich jemals hatte vorstellen können.
Es gibt keine Rückkehr für mich, wenn ich auf diesem Thron Platz nehme. Enris, es tut mir so leid. Ich liebe dich so sehr, aber ich muss es tun. Es tut mir so leid. Ihr Götter, ich kann euch nicht einmal für den Weg hassen, den ihr mich habt gehen lassen, denn letztendlich bin ich ihn Schritt für Schritt selbst gegangen. Mein Entschluss webt meinen Faden.
Sie drehte sich auf der letzten Stufe um und holte tief Luft. Weit unter ihr verschmolz das Muster des Spinnennetzes auf dem Boden vor ihren brennenden Augen zu den Speichen eines gewaltigen Rades. Es war ihr, als ob alles Leben in allen Welten gemeinsam mit ihr den Atem anhielt. Der brausende Gesang der Stimmen in ihren Ohren schwoll zu einem hohen Heulen an.
Neria setzte sich auf Cyrandiths Thron.
33
Der Innenhof der Meeresburg war übersät mit Leichen. Die Serephin, die Carn Taar verteidigten, wurden einer nach dem anderen besiegt. Dennoch war es ein Kampf, der den Antara einen hohen Blutzoll abverlangte, denn keiner ihrer Gegner ergab sich. Sie kämpften bis zum letzten Mann. Selbst schwer verwundet gaben sie sich nicht geschlagen, sondern wüteten weiter, bis sie tot zusammenbrachen.
Enris war klug genug gewesen, sich nicht zu weit in den Hof vorzuwagen. In der Zeit auf der Tjalk und auch während ihres Aufenthalts in Mendaris hatte er sich zwar von Aros und seinen Männern die Grundtechniken des Schwertkampfs zeigen lassen. Aber er wusste genau, dass diese ihm in einer
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