Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
Westen ab und gibt einen weiten Blick auf das Land jenseits des Waldgebietes frei, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat.
Eine Hand streicht durch ihr langes, graues Haar, das einmal dicht, regelrecht zerzaust und pechschwarz gewesen war. Die unbarmherzig voranschreitende Zeit ist nicht immer sanft mit ihr umgegangen. Sie geht gebückt, und besonders bei Kälte schmerzt ihr rechtes Bein so sehr, dass sie kaum auftreten kann. Auch der Stock, den ihr Sohn Malin ihr geschnitzt hat, nützt dann nicht mehr viel. Aber das ist ein geringer Preis, den sie gerne zu zahlen bereit ist, denn was sie von der Zeit außer grauen Haaren, Falten und einem Hinken bei schlechtem Wetter erhalten hat, ist die Gegenwart jenes Mannes, dessen Berührung sie eben spürt. Ihn hat die Zeit ebenfalls nicht sanft angefasst. Seine Hand, die nun auf ihrer Schulter ruht, weist Falten und braune Altersflecke auf. Auch seine Haare, ehemals schwarz, sind schneeweiß und umgeben seinen größtenteils kahlen Kopf wie einen Kranz. Doch die dunkelblauen Augen in dem alten Gesicht, das sich gleich ihrem der untergehenden Sonne zugewandt hat, sind noch immer die des jungen Mannes, den sie einst zum ersten Mal an Bord der Suvare gesehen hatte, jenes Mannes, der sich an ihrer Seite befand, als sie Arcads Körper dem Meer übergaben, und der zusammen mit ihr die Schlacht um Mehanúr durchstand.
Damals, in ihrer Jugend vor so vielen Jahren, kämpften sie gemeinsam gegen die Serephin. Danach kam Enris mit ihr in den Roten Wald, wie er es versprochen hatte. Anfangs waren die Voron ihrer Siedlung nicht begeistert darüber gewesen, dass sie einen Menschen mitgebracht hatte. Besonders Miruni war rasend eifersüchtig. Um ein Haar hätten die beiden Männer Blut vergossen. Aber Pemiti und Tekina hatten sich für den Fremden eingesetzt, und ihr Wort galt – wie immer. Enris hatte Neria zur Frau genommen.
Über die Jahre hinweg hatte der Stamm der Voron dem Menschen in ihrer Mitte sein Vertrauen geschenkt. Ihr gemeinsamer Sohn, der wie seine Mutter die Fähigkeit besaß, in Wolfsgestalt zu jagen, war ebenso anerkannt wie jeder andere von Talháras’ Nachkommen. Aber Enris selbst war ein Außenseiter geblieben, einer, der am Rande der Gemeinschaft stand.
Dies war nichts grundsätzlich Schlechtes, im Gegenteil. Ihm oblag es, den spärlichen Tauschhandel mit den gewöhnlichen Menschen aufrecht zu erhalten, um den Voron jene Dinge zu verschaffen, die sie nicht selbst herstellen konnten. Dennoch schmerzte es Neria, dass ihr Ehemann nie völlig einer von ihnen geworden war. So gut sie es vermochte, hatte sie während ihres gemeinsamen Lebens mit ihrer Liebe für ihn diesen Mangel auszugleichen versucht. Sie wusste, dass er nur um ihretwillen und wegen Malin blieb.
Ihre lange Wanderung zum westlichen Rand des Roten Waldes hatte ebenfalls zu diesen Versuchen gehört. In den letzten Jahren hatte Enris immer wieder davon gesprochen, wie schmerzlich er das weite Land jenseits des Waldes vermisste. Sie würden beide nicht mehr lange dazu in der Lage sein, ausgedehnte Reisen zu Fuß zu unternehmen. Also hatte sie ihm den Vorschlag gemacht, während der trockenen Sommermonate gemeinsam die Siedlung zu verlassen, damit er ein letztes Mal einen freien Blick auf den Horizont werfen konnte. Nach mehreren Tagen hatten sie endlich die Grenze des Waldes erreicht.
»Ist das nicht wunderschön?«, vernimmt sie seine belegte Stimme, als ränge er mit den Tränen.
Langsam nickt sie. Im baumlosen Gras hat sie sich immer etwas unsicher gefühlt. Damals, als sie völlig alleine den Weg zur Küste suchte, geleitet von nichts anderem als Talháras’ Botschaft im Traum, fürchtete sie sich sogar vor der Weite der nördlichen Ebene. Aber heute genießt sie mit halb geschlossenen Augen die warmen Strahlen der versinkenden Sonne auf ihrem Gesicht, während sie den Wind in ihrem Haar spürt, der über das offene Land weht und den Geruch des fernen Meeres mit sich trägt, so fein, dass nur ein Voron ihn wahrnehmen kann.
»Wir werden nie wieder hierher kommen. Es ist zu beschwerlich. Von heute an wird der Wald mein letztes und einziges Zuhause sein.«
»Bereust du es?«, fragt sie.
Der alte Mann neben ihr schüttelt heftig den Kopf. »Niemals! Ich bin froh, dass ich dieses Leben gewählt habe.«
»In der letzten Zeit muss ich immer wieder daran denken, wie wir damals gegen die Serephin kämpften«, sagt Neria im schwindenden Abendlicht. »Wir haben die Geschichten darüber
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