Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
Verstand durchdrang und mit ihm verschmolz. Er wurde zu dem Regen, zu dessen Wärme, zu dem unerbittlichen, pochenden Strom. Gleichzeitig durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass das, was er gerade fühlte, die Lebenskraft des Weltenbaums war. Er spürte den feurigen Strom des Lebens durch seinen Körper schießen, der nicht zu zähmende Wille, sich in unendlicher Vielfalt wieder und wieder auszudrücken, ohne Ziel, ohne Bewusstsein, selbst ohne mit dem Leben verbundene Gefühle wie Liebe oder Hass. Es gab nur reine Notwendigkeit, das Verlangen, zu entstehen, zu wachsen und sich fortzupflanzen. Nichts in diesem Strom war tot, denn alles veränderte unaufhörlich seine Gestalt und wechselte seine Form. Was unter dem Schatten des Weltenbaums starb, wurde von dessen Wurzeln umfangen. Unaufhörlich sogen sie einen Strom von Lebenskraft auf und schickten ihn durch den Stamm bis in die kleinsten Zweige, wo neue Knospen, Blüten und Früchte heranwuchsen.
Es war die erschreckendste Empfindung, die Pándaros je verspürt hatte. Nie zuvor hatte er die Bedeutungslosigkeit seines eigenen Lebens so unmittelbar erlebt. Es spielte keine Rolle, ob Eigin lebte oder starb. Es war egal, ob Deneb und er es bis nach Carn Taar schafften und Ranár retteten. Runlands Untergang bekümmerten den Weltenbaum und die Schicksalsherrin, die ihn geträumt hatte, nicht. Wo nur noch der Strom der sich ständig wandelnden Kraft des Lebens vorhanden war, verblasste sein eigenes Selbst und ging verloren. Kalte Panik schüttelte ihn. Am äußersten Rand seiner Wahrnehmung fühlte er, dass es Deneb ebenso ging.
Da schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, an den er sich festklammerte, als wäre ihm von irgendwoher ein rettendes Seil zugeworfen worden. Es war einer der Abschnitte aus der Schu’ra, des Heiligen Buches von T’lar, den er so oft gelesen hatte, dass er ihn auswendig konnte. Die Worte hämmerten wie Donnerschläge auf seinen Geist ein.
Denke nicht die Gedanken der Sklaven, sprich nicht ihre Sprache! Der Tautropfen deines Lebens ist ein Spiegel für die zahllosen Sterne, die sich über ihm wölben. Wenn du dein Leben vor ihrem Angesicht als bedeutungslos empfindest, so ist alles andere Leben ebenso bedeutungslos. Denke daher die Gedanken der Könige! Wenn du dein Leben als ein einzigartiges Juwel betrachtest, dem kein anderes jemals gleicht, so werden auch die zahllosen Welten um dich herum einzigartig und kostbar, vom größten Stern bis zum winzigsten Staubkorn darin. Ein König kann nicht die Schönheit und Einzigartigkeit des Himmels betrachten, ohne seine eigene Unvergleichlichkeit wertzuschätzen, denn für ihn ist beides eins. Dies ist seine Sprache.
Er hörte, und er verstand. Der heiße Fluss, der durch den Stamm des Weltenbaums rauschte, floss auch weiterhin dröhnend durch seinen Geist. Doch er war ihm nicht mehr willenlos ausgeliefert.
Mein Leben ist nicht bedeutungslos! Und deines ist es auch nicht, Deneb! Wir sind so einzigartig wie auch alles andere in Cyrandiths Traum. Und genau deswegen geben wir nicht mit unserer Suche auf. Deneb! Hörst du mich?
Ich höre dich , vernahm er die Stimme seines Freundes. Die Schu’ra spricht wahr. Vor der Größe des Weltenbaums vergessen wir dies viel zu leicht. Aber es ist dennoch immer unsere eigene Entscheidung, woran wir glauben.
Ihr haltet euch gut, das tut ihr , spottete der Chor der Reisepilze gutgelaunt. Wir dachten schon, ihr würdet aufgeben. Vielleicht schafft ihr es doch bis hinab zu den Toren zum Kalten Reich. Wir werden sehen, wir werden sehen. Keine Müdigkeit!
Erneut schwebten ihnen die Geister der Reisepilze voran. Pándaros kam ihre Reise abwärts am Stamm des Weltenbaums allerdings bald nicht mehr so sehr wie Fliegen vor, sondern mehr wie das Schwimmen in einem Fluss, der sich bei weitem nicht so träge dahinwälzte wie der Lilin, in den er mit Deneb auf der Flucht vor den Flammenzungen gesprungen war. Dieser Fluss zog sie so schnell mit sich, dass Pándaros nicht mehr das Gefühl wahrnahm, seinen Geistkörper in irgendeine bestimmte Richtung zu bewegen. Stattdessen flossen sie mit der rotbraun schimmernden Masse dahin, die auch durch ihre Geistkörper rauschte.
Eisern hielten sie ihr Ziel aufrecht, den todkranken Jungen zu finden. In den Tiefen, in die sie vordrangen, war dies die einzige Richtschnur, die sie gesund an Geist und Seele wieder zurück in ihre Welt bringen konnte.
Allmählich nahm die Hitze um sie herum ab, so schleichend, dass sie es zunächst kaum
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