Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
die Magie dieses Ortes in sich aufnehmen, die durch die Blätter jener Bäume um uns herum strömt. Er wird für eine Weile in der Lage sein, seine Gestalt zu verändern, solange er sich hier aufhält.«
»Aber ich werde mich nicht verwandeln können«, sagte Neria. »Ich werde nur zur Wölfin, wenn der Vollmond unserer Welt am Himmel steht.«
»Du kannst dich jederzeit verwandeln«, entgegnete Jahanila. »Die Fähigkeit dazu ist in jedem von euch. Es ist für euch junge Voron nur schwerer, eurem Willen Kraft zu verleihen. Wir sind hier in Galamar. Hier ist es viel leichter, Magie zu wirken als in Runland. Es wird vielleicht etwas ungewohnt für dich sein, aber du kannst zur Wölfin werden, wann immer du es willst.«
Neria starrte das zusammengedrehte Blatt in ihren Händen an, als könne es jeden Moment zu einem eigenen Leben erwachen. »Danke«, flüsterte sie schließlich mit erstickter Stimme.
Jahanila erwiderte nichts, sondern wandte sich zum Gehen.
»Warte«, sagte Neria leise.
Die Serephinfrau hielt inne und drehte sich zu ihr um.
»Warum tust du das? Weshalb hast du mir dieses Geschenk gemacht?«
Wieder verzog Jahanila ihren Mund zu jenem wehmütigen Lächeln. »Ich dachte, das hättest du längst erraten. Weil er mir ebenfalls nicht egal ist.«
»Du ...«, murmelte Neria fassungslos.
»Erst war ich nur neugierig auf ihn. Manari, unsere Anführerin, hatte Alcarasán und mir ein Bild von ihm gesandt. Ich fragte mich, wer dieser Temari sein mochte, dem es gelungen war, einer Sturmkriegerin wie ihr mehr als einmal die Stirn zu bieten. Dann stand ich ihm auf Irteca gegenüber, als er sich in der Gewalt jener anderen Temari befand. Ich fühlte seinen Willen, nicht aufzugeben, egal, was man ihm antun würde. Ich spürte seinen heißen Wunsch, alles zu geben, um die Vernichtung eurer Welt aufzuhalten. Und mit einem Mal verstand ich Oláran.«
»Wen?«
»Er ist einer der Großen unseres Volkes. Er war es, der den Plan ersann, euch Temari zu erschaffen, um das Blut des Schmetterers zu bewahren. Oláran sagte einmal, wir würden unsere Schöpfung erst dann wahrhaftig begreifen, wenn wir einmal in ihrer Gestalt ein Leben als Temari geführt hätten, wenn wir uns mit ihnen vereint, wie sie gelacht und geliebt hätten. Bisher hielt ich das immer für rührseligen Unsinn. Bis zu jener Begegnung an dem Quelor auf Irteca.«
»Wo ist dieser Oláran jetzt? Könnte er uns dabei helfen, unsere Welt zu retten?«
»Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist«, sagte Jahanila traurig. »Er ist schon lange verschwunden. Aber wir alle hoffen darauf, dass er dereinst zu uns zurückkommen wird.«
Sie sah sich um, als wäre sie aus einem schweren Traum aufgewacht. »Ich muss gehen. Nutzt die Zeit, die euch bleibt. Denn selbst wir, die wir in der Zeit gereist sind, können niemals an denselben Ort zurückkehren.«
Neria blickte der Serephinfrau nach, wie sie wieder den Weg beschritt, auf dem sie zu der bewaldeten Hügelkuppe gekommen waren. Schnell hatte sie die Dunkelheit verschluckt. Als sich die Voronfrau umdrehte, saß Enris noch immer auf der Baumwurzel und sah zu den Lichtern der Stadt hinab. Sie trat zu ihm und ließ sich neben ihm nieder.
Sie schwiegen lange, während die Nacht voranschritt und der Wind die Blätter über ihnen flüstern ließ. Neria glaubte zu spüren, wie Enris mehrmals dazu ansetzte, etwas zu sagen, dann aber doch still blieb. Schließlich legte er seinen Arm um sie. Ihr Körper versteifte sich kurz, nicht, weil sie sich nicht nach seiner Berührung gesehnt hätte, sondern weil es schon so lange her gewesen war, dass ein Mann ihr auf diese Weise nahe gewesen war. Damals war es anders gewesen, ein schnelles, hektisches übereinander Herfallen im Halbdunkel des Vorratslagers mit einem Jungen, den sie gekannt hatte, solange sie zurückdenken konnte. Neria war mehr neugierig als verliebt gewesen, und sie waren auch nicht zusammengeblieben. Doch diesmal fand sie es schwer, einen Anfang zu machen. So viele unausgesprochene Fragen drängten sich zwischen sie beide, jetzt, da sie endlich einmal alleine waren und darüber nachsinnen konnten, was sie füreinander empfanden.
Letztendlich aber entspannte sie sich und lehnte sich an den Körper des jungen Mannes. Es war sinnlos, darüber nachzugrübeln, ob sie sich vielleicht nur deswegen zueinander hingezogen fühlten, weil sie hier in der Fremde gestrandet waren. Jahanila hatte recht. Was zählte, war diese Nacht.
Als sich Enris über sie beugte und
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