Runlandsaga - Feuer im Norden
Gebäude durch deren kunstvolle, abwechslungsreiche Anordnung beinahe lebendig. Es war, als sei Gotharnar in Wirklichkeit nichts anderes als ein riesiger Drache mit einem Rückenpanzer voll weiß schimmernder Knoten und Stacheln, der unter einem Himmel aus dunkelroten Wolken vor sich hindöste – jederzeit bereit, sich im Schlaf zu bewegen, die Augen zu öffnen und sich brüllend zu erheben.
Wie sehr er diesen Anblick vermisst hatte!
Für einen Moment sah er neben sich zwei Serephin stehen, ein Kind und einen Erwachsenen. Wie er, so blickten auch sie aus dem Fenster. Ein anderes Licht spiegelte sich auf den Schuppen ihrer Schlangenhäute, das warme, rote Licht eines Tages, der gerade eben angebrochen war.
Der Kleine beugte sich vorsichtig über den Fenstersims und sah hinab. Es ist so hoch, Vater!
Die Stimme des Erwachsenen klang sowohl heiter, als auch beruhigend. O ja, das ist es. Aber sieh dir nur die vielen Gebäude an. Sie liegen dort unten ausgebreitet wie ein Feld voll glänzender Edelsteine. Es ist wunderschön, sich von hier in die Tiefe zu stürzen und über all den zahllosen Leben am Boden hinweg zu gleiten. Außerdem verlängert die große Höhe den Fall, die Aufregung und den Spaß.
Das Kind blickte zweifelnd an dem erwachsenen Serephin empor, der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Aber ich bin noch nie von einem so hohen Ort aus geflogen. Das Höchste war der Baum im Garten.
Hab keine Furcht! Dies hier ist auch nicht anders, als sich von einem Ast aus in die Lüfte zu schwingen. Und ich will dir noch etwas verraten. Der Erwachsene beugte sich herab, bis sich sein Gesicht dicht vor dem des Kindes befand. Auf eine besondere Art ist es sogar viel leichter, von hier loszufliegen als unten im Garten. Der Himmel da oben, hoch über der Stadt, das ist unser wahres Zuhause – die Heimat von Wesen mit Schwingen. Von hier aus bist du dem Himmel am nächsten.
Die Miene des Kleinen war noch immer zweifelnd und besorgt. Doch dann holte er tief Luft. Von einem Moment auf den anderen breiteten sich die Flügel auf seinem Rücken aus. Ohne ein weiteres Wort sprang er vorwärts durch das Fenster und segelte dem fernen Horizont über den weiß schimmernden Dächern entgegen. Der Erwachsene blieb zurück und sah ihm nach.
Alcarasán blinzelte. Das Bild vor seinen Augen verschwand wie Nebel. Wie lange es nun schon her war, dass er hier mit seinem Vater gestanden hatte, damals, als die Dinge noch anders gewesen waren, als dieser Ort noch ein Heim für eine wirkliche Familie gewesen war und nicht ein stilles Haus voller Gespenster aus der Vergangenheit.
Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er das letzte Mal hier im obersten Raum des Turms gestanden und aus diesem Fenster geblickt hatte. Es war der Abend seines Aufbruchs aus Vovinadhár gewesen. Damals hatte sich der Felsen, auf dem die Stadt der Luft erbaut worden war, so nahe an dem von Gotharnar befunden, dass man die Umrisse der Türme Ascerridhons im roten Dunst jenseits der Grenzen dieser Stadt hatte schwach erkennen können, wenn es Abend wurde und das Licht Vovinadhárs zu schwinden begann. Die Felsen der drei anderen Städte schwebten selten so nahe an Gotharnar heran, dass sie mit dem bloßen Auge zu sehen waren. Wenn es geschah, dann wurde dies von vielen als ein Zeichen betrachtet, als Vorbote bald eintreffender Veränderungen – nicht immer zum Guten. Alcarasán dachte daran, wie er damals die schemenhaften Umrisse Ascerridhons im schwächer werdenden Abendlicht mit seiner bevorstehenden Abreise in Verbindung gebracht hatte. Er war vom Orden ausgewählt worden, eine wichtige und gefahrvolle Aufgabe zu übernehmen. Endlich hatte er die Gelegenheit, Terovirin zu zeigen, was er wert war. Die langen Jahre des Lernens als Nevcerran und das Vertrauen, das der Lamazhabin vom Tag seines Eintritts in den Orden an in ihn gesetzt hatte, waren nicht verschwendet gewesen. Als jüngster Vertrauter des Ältesten besaß er keine leichte Stellung. Die Restaran, die schon länger zum engsten Kreis um Terovirin zählten, hatten einen so unerfahrenen Feuerpriester wie ihn nur ungern als Ihresgleichen annehmen wollen.
Er stammt aus einem rebellischen Haus, hatten sie gesagt, zwar hinter seinem Rücken, doch wohlweislich darauf bedacht, dass ihm diese Worte dennoch zugetragen wurden. Seine Verwandten gehörten zu den Vertrauten von Oláran, dem Verräter. Mag sein Haus auch dessen Irrlehren abgeschworen haben, Alcarasáns Vater selbst hat dies niemals
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