Runlandsaga - Feuer im Norden
Kinderkörper war nur Täuschung.
Ein erneuter Schwindelanfall erfasste sie, und sie konnte sich gerade noch an einer der Steinplatten festhalten, die den Eingang der Kammer begrenzten.
»Nun mach schon!«, schrie Sarn ungeduldig. »Er wird gleich wieder zu Kräften kommen!«
Neria stolperte in den Mittelgang hinein.
»Geh weiter nach hinten«, drängte die Stimme der Alten in ihrem Rücken. »Die ersten Kammern sind leer, ich hab sie schon durchsucht.«
Der Gedanke, wieder in denselben Raum zurückkehren zu müssen, in dem sich dieses Ungeheuer befand, erfüllte Neria mit größerer Furcht als alles, was ihr bisher widerfahren war. Sie wünschte sich sehnlichst, den ganzen Weg bis zum anderen Ende des Hügelgrabes zu laufen und ins Freie zu entkommen, fort von hier, fort von dem hungrigen Geist, dessen Augen alles verschlangen, was sie mit ihrem Blick eingefangen hielten. Was ging sie diese alte Frau an – noch dazu eine Menschenfrau? Die Menschen hatten den Voron immer nur Schwierigkeiten gemacht. Jeder aus dem Dorf wusste das.
Aber die Fremde hatte ihr das Leben gerettet. Sarn hatte sie von der nebligen Klippe zurückgeholt, die ihr Geist beinahe hinabgestürzt wäre. Und wohin sollte sie auch flüchten? In die unbekannte Gegend dort draußen mit einem wütenden Ungeheuer auf den Fersen?
Du wirst keine Ruhe haben, solange dieses Wesen nicht tot ist, begehrte eine nüchterne Stimme in ihr auf. Wenn du es schon nicht für diese Frau tust, dann sei wenigstens so schlau und tu es für dich.
»Also gut. Für uns beide«, murmelte sie verzweifelt und wandte sich einer der Kammern auf der rechten Seite des Mittelganges zu. Sie tastete sich in das beinahe völlige Dunkel vor, bis ihr Knie hart an einem Steinblock stieß. Sie fühlte mit ihren Händen, ob etwas darauf lag. Ihr Herz tat einen hoffnungsvollen Sprung, als sie tatsächlich Knochen unter ihren Fingern fühlte. Doch das Skelett trug nichts bei sich, das man als Waffe hätte benutzen können. Eilig kehrte sie um und trat in die gegenüberliegende Kammer. Erneut suchte sie den Steinblock an der Seitenmauer nach Überresten eines Toten ab und betete zu Cyrandith, das Grab eines Kriegers gefunden zu haben.
Sie hatte Glück. Ihre Fingerspitzen fuhren zuerst über Knochen, dann über Holz, und schließlich über Metall. Dieses Skelett hielt den Schaft einer Axt in seinen über der Brust gefalteten Händen. Eilig riss sie die Waffe an sich.
Verzeih mir, wer auch immer du gewesen bist, aber wenn du ein Krieger warst, dann wirst du es verstehen, dass ich sie brauche.
Die Axt wog schwer in ihrer Hand, schwerer als jene, die Mirunis Vater vor Jahren einem toten Fallensteller abgenommen hatte, und mit der sie mehr als einmal zum Holzfällen in den Wald gegangen war. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie sich so schwach fühlte, als läge eine lange, auszehrende Krankheit hinter ihr.
Sie kehrte in den Mittelgang zurück. Aus der hintersten Kammer ertönten lautes Poltern und ein Schrei.
Der Gorrandha musste die Menschenfrau überwältigt haben! Nerias Hand packte die Axt fester. Sie schlich auf den Eingang der Kammer zu. Aus dem Inneren drang kaum Licht. Die junge Frau ging hinter der Linken der beiden Steinplatten am Eingang in Deckung und spähte in den Raum.
Sarn lag ausgestreckt auf dem Boden. Ihre Fackel war in eine Ecke gerollt, brannte aber noch immer. Der Gorrandha saß auf ihrem Bauch und drückte ihre Hände nieder. Seine Haare hingen wie ein dunkler Vorhang über ihr. In seiner Gier berührte sein Gesicht beinahe das ihre.
Genauso hat er auch über dir gesessen. So hat er von deiner Lebenskraft getrunken. Du kannst es leugnen, dir einreden, dass es etwas anderes war, als wenn ein Kerl dir gegen deinen Willen seinen Schwanz hineinsteckt. Aber auf seine Art hat er dich mit Gewalt genommen. Ay, das hat er. Und das war ein verdammter Fehler.
Eine dunkelrote Woge spülte über ihren Verstand hinweg und zertrümmerte jede Spur von Angst in ihr. Alles, was diese Woge zurückließ, war kalte Wut.
Sie stolperte mitten in die Kammer und holte aus. Alle Kraft, die ihr erschöpfter Körper aufbringen konnte, lag in dem Schlag, mit dem sie die Axt in den nackten Rücken des Gorrandhas trieb.
Das Wesen schrie gellend auf und fiel neben Sarn, deren Augen ausdruckslos an die Decke der Kammer starrten. Sein Kopf ruckte so wild nach links und rechts, dass seine langen, schwarzen Haare weit umherwirbelten und Nerias Beine trafen. Es versuchte sich
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