Runlandsaga - Feuer im Norden
nahm sie einen tiefen Schluck. Der Flirin brannte immer noch in ihrer Kehle, aber es war nicht mehr so fürchterlich wie beim ersten Schluck. Etwas Wärme kehrte in ihre geschundenen Glieder zurück. Dafür hätte sie selbst einen ganzen Krug von diesem entsetzlichen Zeug hinuntergestürzt.
Immer noch schwach und zitternd hob sie nun vorsichtig Sarns Kopf an und suchte nach einem Lebenszeichen. Als sie feststellte, dass die bewusstlose Frau noch einen Puls besaß, atmete sie erleichtert auf. Sie begann, deren Arme und Beine zu massieren und rief sie wiederholt bei ihrem Namen. Kurze Zeit später hoben sich Sarns Augenlider.
»Hoffentlich hast du mir noch genügend von meinem Flirin übrig gelassen!«, brummte die Alte. »Ist nicht einfach zu bekommen, wenn man im Wald haust und selten in eine Stadt kommt.«
Sie überging großzügig, dass sie sich selbst gerade eben noch mit Nerias Hilfe einen mehr als kräftigen Schluck genehmigt hatte. Nun äugte sie argwöhnisch in das Dunkel des Flaschenhalses hinein, ohne aber erkennen zu können, wie viel sich noch darin befand.
»Keine Sorge!« erwiderte die Voronfrau. »Woraus auch immer es sich zusammensetzt, ich werde mich bestimmt nie daran gewöhnen. In Zeiten größter Not mag es das Richtige sein, aber wenn ihr Menschen ständig so etwas zu euch nehmt, müsst ihr wohl Mägen aus Eisen besitzen.«
Sarn warf ihren Kopf zurück und lachte laut. Für einen Moment erschien es Neria unpassend, an diesem unheimlichen Ort und in Sichtweite der Überreste des Gorrandhas ein so fröhliches Gelächter zu vernehmen. Doch der Heiterkeitsausbruch der alten Frau steckte an, und ihre Erschöpfung tat ein übriges. Ehe sie es sich versah, lachte sie selbst und fühlte, wie sich ihre Anspannung endlich zu lösen begann.
»Er war verflucht schnell«, knurrte Sarn nun wieder mit ernster Miene. »Schneller, als ich gedacht hatte. Er hob seinen Kopf, und in dem Augenblick, als er mich anstarrte, fühlte ich mich wie gelähmt. Ich konnte keinen Finger mehr rühren. Die Fackel fiel mir aus den Händen, das weiß ich noch. Ich sah in seine Augen, dann erinnere ich mich an nichts mehr.«
Neria, die sie genau betrachtete, sah, wie Sarns Blick für einen kurzen Moment lang unruhig aufflackerte.
Oh, doch, du erinnerst dich ganz gut, alte Frau, genauso wie ich auch. Aber diese Erinnerungen gehören bestimmt nicht zu denen, die man gerne anderen erzählt. Meine werde ich jedenfalls mit in Talháras‘ Wald nehmen, wenn der Uralte am Ende meines Lebens für mich kommt.
Sarn stand auf und schob das, was von dem Wesen übrig geblieben war, mit ihrem Fuß zusammen.
»Ich hab gewusst, dass in der Gegend um die Riesensteine einer der hungrigen Geister hauste. Aber ich ließ ihn immer in Ruhe. Seitdem ich hier lebe, hat er keinen Menschen mehr angegriffen. Manchmal schnappte er sich ein wildes Tier, und ich dachte mir, so ist eben der Lauf allen Lebens in diesen Wäldern. Etwas stirbt ab, etwas Neues wächst nach. Wozu sich einmischen und sich in Gefahr bringen?«
Ihr Blick wanderte zu Neria, die sie gespannt ansah. »Aber ich habe falsch gelegen, und wir beide hätten es beinah teuer bezahlt. Das da gehörte niemals zum Lauf allen Lebens. Und ich will nicht, dass die Überreste von dem verfluchten Ding dieses Grab beschmutzen.«
Sie löste ein breites Tuch, das um ihren Hals geschlungen war, und schob das Häufchen aus Haut und Haaren mit Hilfe ihrer Stiefel darauf. Dann ergriff sie das Bündel.
»Ich werde das hier verbrennen und die Asche in fließendes Wasser streuen. Nichts von ihm soll übrig bleiben.«
Als sie die Kammer verließen und den Mittelgang des Cairans durchschritten, hielt Neria inne. Sie sagte Sarn, sie würde nachkommen, und legte die Axt, die sie dem namenlosen Toten abgenommen hatte, wieder auf die Überreste seines Skeletts. Im Licht der Fackel fiel Neria auf, dass der Schädel des toten Kriegers von jenen, die ihn zur Ruhe gebettet hatten, auf die Seite gedreht worden war, sodass er in den Gang hinaus sah. Neria schien es, als blicke er sie schweigend an. Sie kniete vor seinem Steinblock nieder und senkte ihren Kopf für ein Gebet.
Wer auch immer du im Leben warst, ein guter Mensch oder ein Verbrecher, es kümmert mich nicht. Bei meinem Volk heißt es: Dein Tod hat deine Taten bezahlt, und deine Schuld ist vergessen, wenn dich je eine traf. Nimm daher deine Axt zurück und verfolge mich nicht mit deinem Zorn, weil ich dir eine Gabe derer fortnahm, die dich im Tode
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