Runlandsaga - Sturm der Serephin
die Schritte ihrer drei Verfolger klangen noch immer von der Mitte der Halle her. Anscheinend hatten sie jeden Sinn für die Richtung verloren. Mit jedem Augenblick, der verstrich, wurden sie ungeduldiger und lauter.
Enris hatte gerade die Stelle in der Wand erreicht, an der er das Holz des Türrahmens fühlen konnte, als er dicht neben sich eine Bewegung vernahm. Im nächsten Moment zerriss etwas den Stoff seines Ärmels und ritzte seinen Arm. Er wich zurück, den Jungen mit sich ziehend. Da stand einer mit einem Messer genau vor der Tür und schwang es im Dunkeln! Bestimmt war es Toron, der vierte Mann.
»Ich hab ihn!«, brüllte eine Stimme vor Enris. Jemand sprang ihn an. Mit einem dumpfen Schlag prallte der junge Mann gegen die Wand. Seine Hand ließ den Kleinen los.
»Lauf! Hol Hilfe!«, keuchte Enris. Er rammte den Ellbogen gegen den unsichtbaren Körper, mit dem er rang. Anscheinend hatte er etwas Empfindliches getroffen, denn es ertönte ein Schrei, und sein Gegner wich zurück. Dann fuhr wieder etwas über Enris‘ Gesicht, und seine linke Wange begann zu brennen wie Feuer. Er ließ sich fallen und kroch in die Richtung, in der er die Tür vermutete.
Plötzlich vernahm er ein lautes Knarren. Trübes Licht fiel in den Raum. Der Junge hatte die Tür aufgezogen! Enris sah, dass er nur ein paar Fuß von ihr entfernt war, sprang mit aller Kraft auf, die er noch besaß, und öffnete sie mit einem Stoß seiner Schulter noch weiter. Der Kleine flitzte dicht vor ihm hinaus ins Freie. Jemand versuchte, Enris festzuhalten, doch er riss sich frei und stürmte ebenfalls durch den Eingang.
» Lauf! «, brüllte er abermals. Sein Magen verkrampfte sich, aber er biss die Zähne zusammen und kämpfte das Gefühl zurück, dass seine Beine gleich unter seinem Gewicht nachgeben würden. Der Regen hatte nachgelassen, dennoch war seine schmerzende Wange nass. Während er dem Kind hinterherrannte, das ohne sich auch nur einmal umzusehen geradeaus an den Lagerhäusern vorbeilief, durchzuckte ihn der Gedanke, dass diese Nässe von seinem eigenen Blut herrührte. Doch er vermied es, sich damit aufzuhalten, sein Gesicht zu betasten. Ebenso wie der Junge drehte er sich nicht um und achtete nicht darauf, ob sie noch verfolgt wurden, sondern richtete den Blick auf den Rücken des Kindes vor ihm. Er rannte und rannte, wie er es kurz zuvor getan hatte, als er aus Larians Haus gestürmt war.
Über den beiden verdunkelte sich ein bewölkter Himmel zum anbrechenden Abend. Ein Schwarm Möwen flog kreischend von der Bucht ins Landesinnere und in den Hafen hinein, unbeeindruckt von den beiden Gestalten, die unter ihnen keuchend durch das Gewirr der Straßen hetzten. Schließlich waren es nur Menschen. Die Abfälle auf dem Platz vor der Hafenmauer weckten die Aufmerksamkeit der hungrigen Vögel weit mehr.
6
Sie hielten beide erst an, als sie den Kai erreicht hatten und der Schwarze Anker vor ihnen lag. Der Junge verringerte die Geschwindigkeit, blieb kurz stehen und blickte über die Schulter. Enris drehte sich ebenfalls um. Das nasse Kopfsteinpflaster erwies sich als verwaist. Kein Mensch befand sich auf der Straße.
Enris war erleichtert, dass der Kleine aufgehört hatte zu rennen. Er schätzte, dass er mit dem Jungen nicht viel länger hätte Schritt halten können. Seine Seite stach furchtbar, und ihm zitterten die Beine. Vornübergebeugt stützte er sich auf die Oberschenkel.
»Sieht so aus, als ob wir sie abgehängt hätten«, keuchte er.
Der Junge starrte ihn an. Langsam verschwand der gehetzte Ausdruck aus seinem Gesicht. Die Andeutung eines Lächelns erschien um seinen Mund.
»Vielen Dank«, sagte er.
»Schon gut«, erwiderte Enris. Er holte tief Luft.
»Wie heißt du überhaupt? Du bist doch der Sohn von dem Wirt, dem das Gasthaus da drüben gehört, nicht wahr?«
Der Junge nickte.
»Ay, ich heiße Themet.«
»Also, Themet«, fuhr Enris fort und richtete sich vorsichtig auf, »dann gehen wir am besten gleich zu deinem Vater und erzählen ihm, was geschehen ist.«
Der Junge nickte erneut. Sofort setzte er sich wieder in Bewegung. Enris hätte noch eine kurze Verschnaufpause brauchen können, aber er folgte ihm.
Zusammen betraten sie die Schankstube des Schwarzen Ankers , in der um diese Zeit mehr Gäste saßen als bei Thajas und Barams Besuch am Vormittag. Die Luft war verbraucht und stickig. Qualm von Pfeifenrauch hing in dicken Schwaden über den Köpfen der Trinkenden und zog um die Öllampen auf den Tischen.
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