Rushdie, Salman
einige weitere Namen vor,
klang aber nicht mehr sonderlich überzeugend. Luka probierte sie ebenfalls
aus. «Meroe! Nana! Ahm ... wie war das?»
«Chalchiuhtlicue»,
wiederholte Nobodaddy.
«Chalchi...»,
begann Luka und hielt inne.
«...uhtlicue»,
soufflierte Nobodaddy.
«Chalchiuhtlicue»,
rief Luka triumphierend.
«Der Name
bedeutet: die Frau mit dem Jaderock», erklärte Nobodaddy.
«Mir egal,
was er bedeutet», sagte Luka, «er zeigt nämlich nicht die geringste Wirkung,
ist also offensichtlich nicht ihr Name.»
Einen
Moment lang überkam Luka eine schreckliche Traurigkeit. Er würde nie mehr aus
diesem Schlamassel herausfinden, das Lebensfeuer stehlen oder seinen Vater
retten. Nobodaddy, diese seltsame Version von Raschid Khalifa, war jetzt sein
einziger Vater, und den würde er auch nicht mehr lange haben. Er würde seinen
Vater verlieren, ebenso dessen tödliche Kopie - höchste Zeit, sich mit dieser
schrecklichen Tatsache abzufinden. Allein seine Mutter und ihre herrliche
Stimme würden ihm bleiben ...
«Ich kenne
den Namen der Insultana», platzte es plötzlich aus ihm heraus, und er trat
unter der Markise hervor und rief mit lauter, klarer Stimme: «Soraya!»
Die Zeit
blieb stehen. Die herabschießenden Ströme Betelsaft, die vergammelten Tomaten,
die Eiergranaten erstarrten mitten im Flug; die Ratten blieben reglos wie
Standfotos; am Himmel verharrten die Otter in kriegerischen Posen auf ihren
Teppichen, die nicht länger im Wind wogten, sondern in der Luft hingen wie
versteinerte Platten; und sogar Bär, Hund und Nobodaddy standen stocksteif da
wie Wachsfiguren. In diesem zeitlosen Universum bewegten sich nur zwei
Personen: erstens Luka und zweitens die auf Resham, König
Salomons Teppich, niederschwebende, direkt vor Luka anhaltende, großartige,
aber auch ein wenig furchteinflößende Insultana von Ott. Doch Luka hatte kein
bisschen Angst mehr vor ihr. Dies war die magische Welt seines Vaters, und
deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass die junge Königin, der
wichtigste weibliche Mensch dieser Welt, denselben Namen trug wie Lukas
Mutter, die wichtigste Frau in seiner und seines Vaters Welt. «Du hast mich
gerufen», sagte sie. «Du hast meinen Namen erraten und damit die Zeit
angehalten. Also, hier bin ich. Was willst du?»
Es gibt
Augenblicke im Leben - nie genug, aber sie kommen vor -, in denen selbst kleine
Jungen die richtigen Worte zu exakt der richtigen Zeit finden, in denen ihnen
die richtigen Gedanken genau dann einfallen, wenn sie am dringendsten benötigt
werden. Für Luka war dies so ein Moment. Ohne eigentlich zu wissen, wie er
darauf kam, hörte er sich zur großen Herrscherin von Ott sagen: «Ich glaube,
wir können uns gegenseitig von Nutzen sein, Insultana Soraya. Es gibt da etwas,
wobei ich dringend deine Hilfe brauche, und dafür habe ich eine Idee, wie du
diesen Krieg gewinnen könntest.»
Soraya
beugte sich vor. «Sag mir einfach, was du von mir willst», verlangte sie in herrischer
Ottermanier, und Luka, dessen sonst so flinke Zunge wie gelähmt schien, zeigte
still auf die goldene Kugel oben am Ratthausdom. «Aha, verstehe», sagte Soraya
von Ott, «und danach, mein junger Herr, willst du dich zweifellos wieder auf
den Weg machen und zum Fluss zurück.» Luka nickte stumm; es wunderte ihn nicht
im Mindesten, wie viel die Insultana wusste. «Wenn das alles ist», sagte sie
und wies Luka an, auf den Teppich zu kommen, womit sie ein freundlicheres
Gemüt verriet, als ihre scharfen Worte vermuten ließen.
Einen
Moment später hob der Teppich ab, was Luka so aus dem Gleichgewicht brachte,
dass es ihn auf den Rücken warf, doch einen weiteren Moment später waren sie
bereits oben an der goldenen Kugel, und Luka stand auf, drückte drauf, hörte,
wie mit einem befriedigenden Pling der
Spielstand gespeichert wurde, und sah, dass in der oberen rechten Ecke seines
Blickfeldes der Zähler auf zwei wechselte. Gleich darauf standen sie wieder auf
ebener Erde neben seinen immer noch in der Zeit erstarrten Gefährten
Nobodaddy, Hund und Bär, und Soraya sagte: «Jetzt bist du an der Reihe. Oder
war das bloß ein leerer Spruch? Jungen wie du - große Klappe, aber immer noch
feucht hinter den Ohren, wie man so schön sagt.»
«Juckpulver»,
sagte Luka ein wenig kleinlaut, da er fand, dass seine Idee plötzlich nicht
mehr besonders beeindruckend klang. Doch die Insultana hörte aufmerksam zu,
also fuhr Luka fort und erzählte ihr schüchtern und nicht ohne Verlegenheit
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