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Rushdie Salman

Rushdie Salman

Titel: Rushdie Salman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die bezaubernde Florentinerin
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schaffen…
Im Dunkel des Verlieses machten ihm die Ketten ebenso
zu schaffen wie die unbeendete Geschichte. So viele Kettenglieder umschlangen ihn, dass er im Dunkeln das Gefühl hatte, er sei irgendwie in einen größeren Leib eingeschlossen, in den Leib eines Eisenmenschen. Bewegung
war unmöglich, Licht nur ein Hirngespinst. Das Verlies
war in den Berg unter dem herrschaftlichen Palast eingelassen, direkt aus dem Fels gehauen, und die Luft in seiner Zelle musste tausend Jahre alt sein, ebenso alt wie
das Getier, das über seine Füße krabbelte, durch sein
Haar, in seine Weichteile, all die Albino-Kakerlaken, die
blinden Schlangen, die durchsichtigen Ratten, die Phantomskorpione und Läuse. Er würde sterben, ohne seine
Geschichte erzählt zu haben. Allein diese Vorstellung
fand er unerträglich, doch loswerden konnte er sie auch
nicht, denn sie weigerte sich, ihn zu verlassen, kroch ihm
zu den Ohren hinein und hinaus, glitt in seine Augenwinkel, klebte ihm am Gaumen und an der zarten Haut unter
seiner Zunge. Alle Menschen mussten ihre Geschichte
loswerden. Er war ein Mensch, doch wenn er starb, ohne
seine Geschichte erzählt zu haben, wäre er weniger als
ein Mensch, nur eine Albino-Kakerlake, eine Laus. Das
Verlies hatte keinen Begriff von einer Geschichte. Es war
statisch, ewig und schwarz, eine Geschichte aber brauchte Bewegung, Zeit und Licht. Er spürte, wie sie ihm entglitt, wie sie folgenlos wurde, zu existieren aufhörte. Er
hatte keine Geschichte. Es gab keine Geschichte. Er war
kein Mensch. Hier gab es keinen Menschen. Es gab nur
das Verlies und die glitschige Dunkelheit.
    Als sie kamen, um ihn zu holen, wusste er nicht, ob ein
Tag oder ein Jahrhundert vergangen war. Er konnte die
groben Hände nicht sehen, die seine Ketten lösten. Und
eine Zeitlang war auch sein Gehör beeinträchtigt, seine
Fähigkeit zu reden. Man verband ihm die Augen und
brachte ihn nackt an einen anderen Ort, an dem er sauber
gescheuert und geschrubbt wurde. Als wäre ich eine Leiche, die zur Beerdigung vorbereitet wird, dachte er, ein
stummer Korpus, der seine Geschichte nicht erzählen
kann. In diesem unchristlichen Land gab es keine Särge.
Man würde ihn in ein Tuch nähen und namenlos in ein
Erdloch werfen. Das - oder ihn verbrennen. Er würde
nicht in Frieden ruhen. Im Tod wie im Leben steckte er
voll unausgesprochener Worte, und sie würden seine
Hölle sein, ihn bis in alle Ewigkeit peinigen. Er hörte ein
Geräusch. Es lebte dereinst. Seine eigene Stimme. Die
Zunge fühlte sich dick an, doch konnte er sie bewegen.
Das Herz wummerte wie eine Kanone in seiner Brust.
Der Zauberwaffen sein Eigen nannte. Er hatte wieder
einen Körper und auch Worte. Man nahm ihm die Augenbinde ab. Vier schreckliche Riesen und eine Frau. Er
kam in eine andere Zelle, in der eine Kerze brannte, und
in einer Ecke stand eine Wache. Die schönste Frau. Die
Geschichte rettete sein Leben.
«Spart Eure Kräfte», sagte die Wache. «Morgen werdet
Ihr wegen Mordes angeklagt.»
Es gab da eine Frage, die er zu stellen versuchte. Die
Worte wollten nicht kommen. Die Wache hatte Erbarmen
und stellte sie für ihn.
«Ich kenne den Namen des Mannes nicht, der Euch anklagt», sagte er, «aber er ist ein gottloser Fremder wie Ihr
selbst, und ihm fehlt ein Auge sowie ein halbes Bein.»
Mogor dell’ Amores erste Verhandlung fand im Haus des
Sandsteinbananenbaumes statt, und seine Richter waren
die bedeutendsten Granden des Hofes, alle neun der
Neun Sterne, deren Anwesenheit ein außergewöhnliches
Dekret des Monarchen verlangte: Abul Fazl, der dicke
Weise; Raja Birbal mit seinem messerscharfen Verstand;
der Finanzminister Raja Todar Mal; Raja Man Singh,
oberster Befehlshaber der Armee; der weltfremde Mystiker Fakir Aziauddin und der deutlich weltlichere Priester
Mullah Do Piaza, der lieber kochte als betete und folglich
von Abul Fazl überaus geschätzt wurde; die großen Dichter Faizi sowie Abdul Rahim und dann noch der Musiker
Tansen. Der Herrscher saß wie gewöhnlich oben auf dem
Baum, doch war er in höchst absonderlicher Laune. Mit
gesenktem Kopf machte er den ganz und gar unherrschaftlichen Eindruck eines gewöhnlichen Sterblichen,
der schrecklich unter einer persönlichen Misere litt. Lange Zeit sagte er kein Wort und ließ dem Prozess seinen
Lauf.
    Die Mannschaft des Piratenschiffes Scathath stand dicht
zusammengedrängt auf einer Seite, ein knurrender Haufen, gleich hinter der makabren Gestalt des

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