Rushdie Salman
Qara-Köz-Nama werden sollte, der «Abenteuer von
Schwarzauge». In diesem Wirbel einer transkontinentalen Komposition lag Wurmholz Khan tot in einem Winkel und verblutete ins Kaspische Meer, in dem es von
Flossenungeheuern nur so wimmelte. Das restliche Bild
zeigte, wie Wurmholz’ Bezwinger, Schah Ismail von Persien, in Herat die Moguldamen begrüßte. Auf dem Gesicht des persischen Monarchen lag ein Ausdruck tief
verletzter Melancholie, die den Herrscher an Dashwanths
eigene, typische Art zu schauen erinnerte, und er nahm
an, der Künstler habe sich mit dieser schmerzlichen Miene in die Geschichte von der verschwiegenen Prinzessin
schmuggeln wollen. Doch in Wirklichkeit war Dashwanth noch viel weiter gegangen.
Es muss nämlich gesagt werden, dass es ihm trotz der
nahezu lückenlosen Beobachtung durch seine Kameraden
gelang, spurlos zu verschwinden. Er ward nicht mehr
gesehen, nicht am Hofe der Moguln, auch sonst nirgendwo in Sikri, selbst im ganzen Land Hindustan nicht. Seine Leiche wurde an kein Seeufer gespült, noch fand man
sie an einem Balken hängend. Er blieb schlicht verschwunden, als ob es ihn nie gegeben hätte, und fast alle
Bilder der Qara-Köz-Nama waren mit ihm verschwunden, nur dieses letzte nicht, auf dem Schwarzauge, die
lieblicher aussah, als selbst Dashwanth sie zuvor je malen
konnte, von Angesicht zu Angesicht dem Mann gegenübertrat, der ihr Schicksal bestimmen sollte. Das Rätsel
wurde von Birbal gelöst, von wem sonst. Eine Woche
und einen Tag nach Dashwanths Verschwinden fiel dem
weisesten aller Höflinge Akbars, der das letzte verbliebene Bild der verschwiegenen Prinzessin aufmerksam in
der Hoffnung studierte, eine Antwort auf die Frage nach
dem Verbleib des Künstlers zu finden, plötzlich ein technisches Detail auf, das bislang unbemerkt geblieben war.
Es schien, als fände das Gemälde in dem reichverzierten,
gut fünf Zentimeter breiten Rahmen, den Dashwanth ihm
gesteckt hatte, keine Begrenzung, sondern setzte sich
zumindest in der unteren linken Ecke - unter dem Holz
noch ein Stück fort. Man brachte das Bild zurück ins Atelier - vom Herrscher persönlich begleitet, ebenso von
Birbal und Abul Fazl -, und unter der Aufsicht der beiden
persischen Meister wurde es sorgsam aus dem bemalten
Rahmen gelöst. Kaum trat der bislang verdeckte Abschnitt zutage, entfuhren den Betrachtern laute Ausrufe
des Erstaunens, denn dort in der Ecke, hingekauert wie
eine kleine Kröte, hockte Dashwanth mit einem riesigen
Bündel Papierrollen unter dem Arm, Dashwanth, der
große Maler, der Graffitikünstler, der Sohn eines Sänftenträgers und der Dieb der Qara-Köz-Nama, erlöst in die
einzige Welt, an die er noch glaubte, die Welt der verschwiegenen Prinzessin, die er geschaffen und die ihn
daraufhin aufgelöst hatte. Ihm war eine unmögliche Tat
ge-glückt, das genaue Gegenteil dessen, was der Herrscher gemeistert hatte, als er die imaginäre Königin erfand. Statt eine Frau seiner Phantasie zum Leben zu erwecken, hatte Dashwanth sich - wie der Herrscher allein
von der überwältigenden Kraft der Liebe getrieben - in
ein imaginäres Wesen verwandelt. Vermochte man die
Grenze zwischen den Welten in die eine Richtung zu
übertreten, dachte Akbar, ließ sie sich auch in die andere
passieren. Ein Träumer konnte zu seinem Traum werden.
«Schiebt das Bild wieder in den Rahmen», verlangte Akbar, «und gönnt dem armen Kerl seine Ruhe.» Nachdem
dies geschehen war, ließ man Dashwanth in Frieden dort,
wohin er gehörte, nämlich an den Rand der Geschichte.
Die Mitte der Bühne aber nahmen die wiedergefundene
Protagonistin und ihr neuer Liebhaber ein - die verschwiegene Prinzessin Schwarzauge, auch Qara Köz oder
Angelica genannt, sowie der Schah von Persien; zwei,
die sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.
10. Wo eines Gehängten Same sich ergießt…
«Wo eines Gehängten Same sich ergießt», las Il Machia
laut W vor, «dort auch die Alraune sprießt.» Schon als
Argalia und sein bester Freund Niccolo - «Il Machia» -
noch Kinder in Sant’ Andrea in Percussina gewesen waren, hatten sie davon geträumt, okkulte Macht über Frauen
zu besitzen. Irgendwo in den Wäldern ihrer Gegend
musste doch irgendwann einmal ein Mann gehängt worden sein, dachten sie sich, weshalb sie viele Monate lang
auf den Gütern von Niccolos Familie nach Alraunen
suchten, im Eichenhain Caffagio, im Gehölz der vallata
von Santa Maria dell’Impruneta, aber auch in dem
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