Rushdie Salman
obwohl diese Informationen wichtig waren,
verfiel Il Machia in einen Tagtraum, als er die kleinen
Zuckungen betrachtete, die beim Reden über das Gesicht
des Gedächtnispalastes huschten. Ja, Argalia war irgendwo aufgewachsen und hatte diverse Taten vollbracht, und all das waren Informationen, über die er verfügen sollte, gewiss, aber vor allem waren da diese sanft
sich regenden Rundungen ihrer Lippen und Wangen, die
präzisen Bewegungen von Zunge und Kiefer, der
Schimmer ihrer Alabasterhaut.
Manchmal lag er in Percussina unweit vom Hof auf der
blätterweichen Erde im Wald und lauschte dem Zweitongesang der Vögel: hoch tief hoch, hoch tief hoch tief,
hoch tief hoch tief hoch. Dann wieder sah er einem
Waldbach zu, sah das Wasser übers Kieselbett plätschern
und betrachtete die winzigen Modulationen von Welle
und Strom. So war der Körper einer Frau. Beobachtete
man ihn aufmerksam, konnte man sehen, wie er sich im
Takt der Welt bewegte, erkannte einen tiefer liegenden
Rhythmus, die Musik unterhalb der Musik, die Wahrheit
unterhalb der Wahrheit. Er glaubte an diese verborgene
Wahrheit, wie andere Menschen an Gott oder an die Liebe glauben, glaubte, dass die Wahrheit eigentlich immer
verborgen blieb, dass das Offensichtliche, das Augenscheinliche unweigerlich eine Lüge sein musste. Und da
er jemand war, der das Präzise liebte, wollte er die verborgene Wahrheit möglichst genau erfassen, wollte sie
deutlich sehen und festschreiben, die Wahrheit jenseits
unserer Vorstellungen von Gut und Böse, von Wahr und
Falsch, Schön und Hässlich, die alle nur Aspekte der
oberflächlichen Beschreibung unserer Welt sind und wenig mit dem zu tun haben, wie die Dinge tatsächlich
funktionieren, losgelöst von der Wesenheit, den geheimen Codes, den verborgenen Formen, den Mysterien.
Hier, am Körper dieser Frau, ließ sich das eigentliche
Mysterium erkennen, an diesem scheinbar reglosen Wesen, dessen Persönlichkeit ausgelöscht worden war oder
unter einer schier unendlichen Geschichte begraben lag,
in labyrinthischen Geschichtenräumen, in denen man
mehr Erzählungen verborgen hatte, als er hören wollte.
Eine delikate Schlafwandlerin war sie, eine Leerstelle.
Während er sie betrachtete, während er aufknöpfte und
streichelte, strömten die auswendig gelernten Worte aus
ihr heraus. Ohne alle Gewissensbisse entblößte er ihre
Nacktheit, berührte sie ohne jedes Schamgefühl, streichelte sie ohne Reue. Er war der Wissenschaftler ihrer
Seele. Aus den kleinsten Bewegungen einer Braue, dem
Zucken eines Oberschenkelmuskels, einer plötzlichen
Bewegung im linken Winkel der Oberlippe schloss er,
dass sie lebte. Ihre Persönlichkeit, dieser allerhöchste
Schatz, war unversehrt. Die Frau schlief nur und konnte
geweckt werden. Er flüsterte ihr ins Ohr: «Dieses Mal
erzählst du deine Geschichte ein letztes Mal. Lass sie los,
während du sie erzählst.» Langsam, Satz um Satz, Episode um Episode, würde er den Gedächtnispalast abtragen
und ein menschliches Wesen befreien. Er knabberte an
ihrem Ohr und sah wie zur Antwort ein winziges Neigen
ihres Kopfes. Er massierte ihren Fuß, und grazil bewegte
sich ein Zeh. Er streichelte ihre Brust, und schwach, so
schwach, dass es nur jemand sehen konnte, der nach der
tieferen Wahrheit suchte, krümmte sie den Rücken. Was
er tat, war nicht falsch. Er war ihr Erlöser. Sie würde ihm
danken, wenn die Zeit gekommen war.
Bei der Belagerung von Trapezunt regnete es Tag um
Tag. Tataren und andere Heiden lauerten in den Bergen.
Der Weg von den Hügeln herab wurde zum Schlammbad, das den Pferden bis an den Bauch reichte. Man zerstörte die Vorratswagen und bettete ihre Ladung auf Kamelrücken um. Ein Kamel stürzte, eine Schatztruhe zerbrach; sechzigtausend Goldstücke fielen auf den Abhang
und lagen für jedermann sichtbar da. Sogleich zogen der
Held, die Schweizer Riesen und der Serbe ihre Säbel um
den Reichtum zu bewachen, bis der Herrscher eintraf
Danach vertraute der Sultan dem Helden mehr, als er
seinen eigenen Verwandten traute.
Endlich schwand die Steifheit aus ihren Gliedern, und sie
lag locker und einladend auf seidenem Laken. Die Geschichten, die sie jetzt erzählte, waren neueren Datums.
Argalia war mittlerweile erwachsen und beinahe ebenso
alt wie n Machia und Ago. Ihre Chronologien hatten sich
wieder angeglichen. Bald würde sie zum Ende kommen,
und dann wollte er sie wecken. Giulietta, die ruffiana, ein
ungeduldiger Mensch, beschwor ihn,
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