Rushdie Salman
gütlich tat, dem neuen Konstantiniyye, von den Türken
auch Stambul genannt, der in der Moschee der Janitscharen betete, achtlos an der gefallenen, zerbrochenen Statue
von Kaiser Justinian vorüberschritt und sich an der wachsenden Macht der Feinde des Westens erfreute. Solch
eine verräterische Verwandlung mochte einen gutmütigen Naivling wie Ago Vespucci beeindrucken, der in
Argalias Reise nur eines jener aufregenden Abenteuer
sah, die er selbst nicht erleben wollte, doch für Niccolo
sprengte sein Verhalten die Bande ihrer Freundschaft,
weshalb sie sich, sollten sie einander je wieder begegnen,
gewiss als Feinde gegenüberstünden, denn Argalias Abtrünnigkeit war ein Verbrechen gegen die tieferen Wahrheiten, gegen die ewigen Wahrhaftigkeiten von Macht
und Verwandtschaft, diesen Triebkräften der menschlichen Geschichte. Argalia hatte sich gegen seinesgleichen
gewandt, und der eigene Stamm zeigte sich gegenüber
solchen Menschen niemals nachsichtig. Allerdings kam
es Il Machia gar nicht in den Sinn - zumindest viele Jahre
lang nicht -, dass er seinen Freund aus Kindertagen vielleicht niemals wiedersehen würde .
Die Zwergin Giulietta Veronese steckte den Kopf durch
die Tür. «Nun?» Niccolo nickte besonnen. «Ich schätze,
Signora, sie wird bald erwachen und wieder ganz sie
selbst sein. Was mich und meine kleinen Handreichungen betrifft, die geholfen haben mögen, ihre Persönlichkeit wiederherzustellen - jene Würde, die, wie uns der
große Pico sagt, das Zentrum unserer Menschlichkeit
ausmacht -, so gestehe ich, durchaus ein wenig Stolz zu
empfinden.»
Vor schierer Verzweiflung blies die ruffiana laut durch
ihre Mundwinkel aus. «Wurde aber auch Zeit», sagte sie
und zog sich wieder zurück.
Fast im selben Moment begann der Gedächtnispalast, im
Schlaf zu murmeln. Die Stimme gewann an Kraft, und
Niccolo begriff, dass die letzte Geschichte erzählt wurde,
jene Geschichte, die das Hirn besetzt hielt, die beim
Durchgang durch diese letzte Tür erzählt werden musste,
damit die Schöne wieder zu normalem Leben erwachen
konnte: die eigene Geschichte, rückwärtserzählt, so als
liefe die Zeit in umgekehrter Richtung ab. Mit wachsendem Entsetzen sah er die Umstände ihrer Indoktrination
vor sich Gestalt annehmen, sah den Nekromanten von
Stambul, den langhütigen, langbärtigen Sufi-Mystiker
des Bektaschi-Ordens, den Adepten der mesmerischen
Künste und des Baus von Gedächtnispalästen, der im
Auftrag eines frisch gekürten Paschas handelte und dessen Heldentaten dem Gedächtnis dieser Gefangenen anvertraute, der ihr Leben löschte, um Platz für Argalias
fraglos sehr selbstverherrlichende Version seiner Person
zu schaffen. Der Sultan hatte ihm die versklavte Schöne
geschenkt, und er hatte nichts Besseres damit anzufangen
gewusst. Barbar! Verräter! Wäre er doch mit seinen Eltern an der Pest krepiert! Wäre er doch ersoffen, als Andrea Doria ihn im Ruderboot aussetzte! Selbst wenn ihn
der walachische Vlad Dracula gepfählt hätte, wäre das
für ihn keine zu harte Strafe gewesen.
Diese und andere wütende Gedanken tobten in Il Machias Kopf, als wie aus dem Nichts ein ungewolltes Bild
aus der Vergangenheit aufstieg: Argalia, der Junge, der
ihn wegen der Grießbreikur seiner Mutter hänselte.
«Nicht die Machiavelli, sondern die Polentini.» Und ihm
war, als hörte er Argalias altes Lied über ein Grießbreimädchen. Wäre sie eine Sünde, würde ich sie begehen,
wäre sie to~ tät ich mich nach ihr sehnen. Il Machia
merkte, wie ihm Tränen über die Wangen rannen. Und er
sang vor sich hin: Wäre sie ein Bote, hätte ich sie gesandt, sang aber so leise, dass er die Jungfer aus Fleisch
und Blut nicht störte, die er aus dem Palast des Kummers
zurückgeholt hatte. Er war allein mit seinen Gedanken an
Argalia, mit seiner frischen Wut und der alten, süßen
Erinnerung an die Kindheit, und er weinte.
Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques
Creur de Bourges, Kaufmann aus Montpellier. Ich heiße
Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques Creur.
Mein Vater war ein Händler und brachte Nüsse, Seide
und Teppiche aus Damaskus nach Narbonne. Man beschuldigte ihn fälschlicherweise, die Mätresse des Königs
von Frankreich vergiftet ZU haben, also floh er nach
Rom. Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von
]acques Creur; den der Papst mit Ehren überhäufte. Man
machte ihn zum Kapitän von sechzehn päpstlichen Galeeren und sandte ihn zum Entsatz
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