Russen kommen
Kremlmauer dahin. Am oberen Ende des gigantischen Platzes die berühmte Basilius-Kathedrale, heute scheint sie im Sonnenlicht am Horizont zu schweben, noch bunter und prächtiger als auf den vielen Fotos ist sie. Grün und gelb und rot und golden, nicht nur die Kuppeln, jede Mauer, jeder kleine Vorsprung ist bemalt und mit farbigen Ornamenten geschmückt. Ein orientalisches Märchen. Auf der anderen Seite des Platzes eine Kirche mit goldenen Türmchen. Seltsame Anordnung, überlege ich, während ich das Café suche. Die Mauer zum russisch-sowjetischen Machtzentrum auf der einen Längsseite, Kirchen an beiden Enden, vis-à-vis der endlos lange Einkaufspalast.
Das italienische Café. Chrom und Stahl und helle Korbsessel, internationales Flair. Karla kommt mit einer jungen Frau. Sie sieht sich um, der Rote Platz ist riesig, überall Grüppchen von Menschen, überall könnte jemand sein, der weiß, wer wir sind, was wir wollen.
Marina Pawlowa kann ganz gut Deutsch, und sie hat etwas zu erzählen. »Sonja war bei mir, ist cirka drei Wochen her. Sie hatte große Angst.« Marina Pawlowa macht eine Pause. War das alles? Oder traut sie sich nicht, weiterzureden?
Karla springt ein: »Marina arbeitet als Sekretärin am selben Institut wie Sonja. Sonja hatte Angst heimzugehen.«
»Man hat sie gejagt«, fährt Marina flüsternd fort. »Ich habe zuerst an einen Scherz geglaubt, wer soll Sonja jagen, aber dann habe ich gesehen, wie viel Angst sie hat.«
»Hat sie gesagt, wer sie verfolgt hat?«, frage ich.
»Nein, nur dass sehr viel Geld im Spiel ist und dass ›mächtige Leute‹ darin verwickelt sind. Sie hat sich zwei Tage bei mir versteckt, ich habe eine eigene kleine Wohnung, dann war sie plötzlich wieder weg.«
»Wann war das?«, will ich wissen.
»Das weiß ich genau. Sie ist am ersten Mai gekommen, das ist bei uns ein großer Feiertag.«
Zwei Tage zuvor wurde in Wien Dolochow ermordet. »Waren Sie bei der Polizei?«, will ich wissen.
»Sie hat mich beschworen, nicht zur Miliz zu gehen. Auf keinen Fall. Und was können die schon tun? Nein, ich bin nicht hingegangen.«
»Hat Sie sonst jemand über Sonja ausgefragt?«
»Nicht mich allein, alle. Zwei Männer waren am Institut.« Ihre Beschreibung passt genau auf die zwei Leute vom Sicherheitsdienst, die auch bei Sonjas Mutter waren. »Ich habe nichts erzählt. Auch nicht ihrer Mutter. Die arme Frau. Aber Sonja hat mich angefleht, es nicht zu tun. Es sei zu gefährlich.«
»Hat Sonja irgendetwas gesagt? Wohin sie geht? Was sie tun will? Alles könnte helfen«, murmle ich.
Marina schüttelt den Kopf. »Sie hat mir eine E-Mail-Adresse dagelassen, unter der ich sie im Notfall erreichen kann. Ich habe es seither jeden Tag versucht. Aber sie hat nie geantwortet.«
»Von welchem Computer aus? Dem am Institut?«
»So dumm bin ich nicht. Ich habe ihr von meinem Freund aus geschrieben. Und einmal von einem Internetcafé.«
Am Nachmittag hat Karla Dreharbeiten für ihren nächsten Dokumentarfilm. Sie beschwört mich, in der Wohnung zu bleiben. Sicher sei sicher. Ich überlege, meinen Flug, der für übermorgen früh geplant ist, um einige Tage zu verschieben. Das Visum gilt für eine ganze Woche. Karla schüttelt energisch den Kopf. »Ich habe dich gerne hier bei mir. Und ich stehe unter gutem Schutz, damit meine ich nicht die Wachtölpel vor dem Haus. Aber ob der Schutz für dich reicht, kann ich nicht sagen. Du versprichst mir, übermorgen zu fliegen. Dann verspreche ich dir, alle Kanäle zu nützen, um herauszufinden, was mit Sonja los ist.«
Ich schaue durch die Glasfront von Karlas Wohnzimmer auf das Panorama von Moskau. Eine aufregende Stadt, das jedenfalls. Ganz anders als New York und doch irgendwie ähnlich. Der rasche Puls, der rasend schnelle Wechsel von Alt und Neu, von Schön und Hässlich, von Arm und Reich, die vielen Menschen in den Straßen, immer unterwegs. Ich gehe zu Karlas PC und schicke Sonja eine Mail:
Liebe Sonja Rostowjewa, wir haben uns nur einmal, ganz kurz, am Arlberg gesehen. Aber das tut nichts zur Sache. Ich bin Journalistin des österreichischen »Magazins«, der größten Wochenzeitung dort. Ich bin hinter den Betrügereien im Zusammenhang mit »Direktinvest« her, ich war mit dabei, als man Dolochow tot in der Wohnung am Wiener Graben aufgefunden hat. Ich weiß, dass Sie verfolgt werden, und muss Sie ganz dringend sehen. Ich wurde selbst schon bedroht. Wir werden erst wieder ruhig leben können, wenn die Schuldigen überführt sind.
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