Russen kommen
gesichtslosen Wohntürme, der Wind pfeift durch die Häuserschluchten. »Restoran« steht in Riesenlettern über einem Eingang, ich bin stolz, das Wort entziffert zu haben. Neben dem Schriftzug löst sich die Oberfläche der schmutzig weißen Fassade ab. Dunkleres Grau darunter.
»Restaurant«, übersetzt Karla. »In Sowjetzeiten hat man Volksküchen gehabt, man hat den Frauen gesagt, dass sie arbeiten dürfen wie Männer, dafür müssen sie sich nicht mehr mit Kochen aufhalten. Solche ›restoran‹ gibt es in jeder Siedlung nach wie vor. In Moskauer Durchschnittsfamilien wird wenig daheim gekocht. Früher gab es oft nicht viel, was man hätte zubereiten können. Und jetzt leben die meisten von irgendwelchen Fertigprodukten. Kochen ist eher etwas für die Wohlhabenden, für Leute, die Zeit haben. Oder jetzt auch wieder für die ganz Armen, die das ganze Jahr von Kartoffeln und Kraut leben müssen.«
Sonja Rostowjewas Mutter wohnt im vierzehnten Stock eines der Hochhäuser am Ende der Siedlung. Der Lift wirkt, als würde er jeden Moment seinen Geist aufgeben. Und dann? Was dann, Mira?
»Diese Wohnungen sind sehr begehrt«, sagt Karla. Ich kann es einfach nicht glauben. »Sie haben Wasser, Strom, Badezimmer, Müll-schlucker. Und sie sind gleich bei der Metro. Billig sind sie nicht gerade.«
Ich muss Karla fassungslos angesehen haben. Ich würde in so einer Verwahrungsanstalt nur wohnen, wenn es unter der Brücke zu kalt wäre.
Karla lächelt. »Früher hast du in Moskau oft jahrelang auf die Zuteilung einer solchen Wohnung gewartet. Nach dem Ende des Kommunismus sind sie quasi über Nacht privatisiert worden. Jetzt gibt es freie Wohnungen. Aber sie zu kaufen, kann sich fast kein Privater leisten. Und die Unternehmen, die viele gekauft haben und sie jetzt vermieten, verlangen für eine Einzimmerwohnung in einer Lage wie dieser locker fünfhundert US -Dollar. Ein Lehrerjob in einer staatlichen Schule bringt cirka dreihundert US -Dollar im Monat.«
»Warum US -Dollar?«
»Weil hier alles, was irgendeinen Wert hat, in US -Dollar gerechnet wird.«
»Und wenn man das Geld für eine solche Wohnung nicht hat?«, frage ich weiter.
»Man sucht eine billigere, die weiter von der Metro entfernt und weniger gut ausgestattet ist. Man sieht sich nach einem Zweitjob um. Man lebt bei den Eltern. Oder bei Freunden. Man bildet Wohngemeinschaften. Auf fünfzig Quadratmetern – wenn man Glück hat.«
Jetzt erst wird mir deutlich, was Karla damit gemeint hat, dass sie wisse, wie privilegiert sie sei.
Sie klopft energisch an eine Wohnungstür im langen schmalen, schlecht beleuchteten Gang. Eine Tür wie die andere.
»Aber sauber ist es hier«, flüstere ich ihr zu.
Sie nickt irritiert. »Natürlich.«
Ludmilla Rostowjewa ist klein und zierlich wie Sonja, sie trägt ein Sweatshirt und eine dunkelblaue Stoffhose. Die Begrüßung besteht vor allem in einem langen, temperamentvollen Monolog von Karla, nur »Sonja« verstehe ich ein paarmal und »Direktinvest«, ein Wort, das auf Deutsch und Russisch annähernd gleich klingt – oder gibt es dafür bloß keine Übersetzung? Ich fühle mich ausgeschlossen. Ludmilla mustert uns zuerst misstrauisch, wenn auch nicht unfreundlich. Ihr Gesicht hellt sich zusehends auf, sie bittet uns zum Küchentisch. Weiße Küchenschränke aus Resopal oder einem ähnlichen billigen Material, auf dem Tisch eine mit roten Blumen bestickte weiße Decke, geschützt durch ein Plastiktischtuch. Vier Sessel aus hellbraunem Holz, ausgeblichene Sitzpölsterchen von wohl ehemals roter Farbe.
Ludmilla ergreift meine Hand und redet auf mich ein.
»Ich habe ihr gesagt, dass du da bist, um Sonja zu suchen, und dass du sie in Österreich gesehen hast. Sie weiß nicht, wo der Arlberg ist. Sie sagt, dass sie alles tun werde, um uns zu helfen, aber sie wisse nichts.«
Karla fragt sie etwas. Ludmilla nickt, antwortet. Karla übersetzt: »Die Miliz ist einmal da gewesen, nachdem sie die Vermisstenanzeige gemacht hatte, es waren auch Leute in Zivil da, sie kann nicht sagen, ob sie von einer staatlichen Stelle waren oder ob sie von einem privaten Sicherheitsdienst gekommen sind.« Karla runzelt die Stirn. »Es ist hier in Moskau auch nicht so einfach, das zu unterscheiden.«
»Frag sie bitte, ob sie weiß, was Sonja in Österreich gemacht hat.«
Wieder rasches Gespräch auf Russisch, oder hört es sich für mich nur so schnell an, weil ich kein Wort verstehe? Dann wieder Karla, die übersetzt: »Sie hatte keine Ahnung
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