Russen kommen
sie nicht finden. Gut möglich, dass sie noch in Österreich oder Deutschland ist.
Oder Sonja hat nicht gewusst, worauf sie sich bei dem Übersetzungsauftrag einlässt, sie hat etwas herausgefunden, etwas gesehen, zu viele Fragen gestellt. Dann versteckt sie sich nicht vor der Polizei, sondern vor den Leuten rund um »Direktinvest«. Oder, die dritte Möglichkeit: Man hat sie bereits gefunden und beseitigt.
»Die Miliz in Moskau, sie ist eine Sache für sich«, erklärt Karla. »Sie arbeitet zwar, aber du weißt nie, für wen. Ich würde sagen, sie arbeitet für den, der sie zahlt.«
»Aber es können doch nicht alle korrupt sein«, erwidere ich und denke an einen Kriminalroman von Alexandra Marinina. Die war früher selbst bei der Miliz. Und sie behauptet genau das – mit Ausnahme von ein paar Helden und Heldinnen. Aber die braucht ein Kriminalroman nun einmal.
»Korrupt. Was ist das? Habt ihr in Wien nicht gerade einen Korruptionsskandal bei der Polizei? Hat sich der Polizeichef nicht von irgendwelchen Firmen Reisen zahlen lassen? Hat er nicht im Rotlichtmilieu verkehrt und einem Freund rechtzeitig einen Tipp gegeben? Und was war mit diesen ›Freunden der Wiener Polizei‹?«, fragt Karla.
»Mein ehemaliger Chefredakteur ist auch bei diesem Verein«, grinse ich. »Gemeinsam mit Politikern, anderen bekannten Journalisten, Anwälten, Wirtschaftspromis. Ist doch edel, wenn man die Wiener Polizei mit Spenden fördert. Und ist ja klar, dass der oberste Polizist ein Auge zudrückt, wenn so ein Freund besoffen mit einhundertzwanzig Sachen über die Südosttangente rast.«
»Klingt wie aus Moskau. Nur dass es hier schwieriger ist, darüber zu schreiben«, meint Karla.
Ich nicke. »Hat aber auch bei uns Jahre gedauert, bis das Ganze ans Licht gekommen ist. Und es war keine große Zeitung, die die Story gebracht hat, sondern die Wiener Stadtzeitung. Es sind übrigens gleich zwei suspendiert worden. Der Chef der Kriminalpolizei und der Polizeichef. Der eine war wohl zu eitel, der andere ist eitel und gierig. Und sie haben einander gehasst. Also schwärzt einer den anderen an.«
»Das gibt es hier auch. Und: Die Miliz ermittelt ja, aber wenn sie wichtige Gönner dabei unterstützen, durch Geld, durch Vergünstigungen, durch die passenden Worte zu den passenden Menschen, dann geht es eben leichter – zumindest sieht man das in Moskau so. Du darfst auch nicht vergessen: Milizionäre sind schlecht bezahlt. Kein Wunder, dass viele zu privaten Sicherheitsdiensten wechseln. Und ihre Kontakte mitnehmen.«
»Dolochow hat gesagt, dass er alles tun werde, damit der Mord an seinem Bruder so rasch wie möglich aufgeklärt wird. Er ist doch einer, der die Miliz zum Arbeiten bringen kann«, überlege ich.
Karla nickt. »Sicher. Er hat auch einen privaten Sicherheitsdienst. Das sind Leute, die ihn und seine Geschäfte beschützen. Wahrscheinlich vertraut er ihm mehr.«
Karla will nicht, dass ich mit ihr zum Universitätsinstitut fahre, an dem Sonja arbeitet. Sie meint, wenn andere vor uns dieselben Spuren verfolgt hätten, dann sei es leicht möglich, dass sie das Institut weiter unter Beobachtung hätten. Ich soll mich mit Karla in einem italienischen Café im » GUM «, dem größten Einkaufspalast in der Moskauer Innenstadt, direkt am Roten Platz, treffen.
Irgendwie erinnert mich das » GUM « an die Galerie Vittorio Emanuele in Mailand: prächtiges hohes Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, fein gearbeitete Glaskuppeln, die das Tageslicht hereinlassen und vor Regen und Schnee schützen. Das » GUM « allerdings ist um ein Vielfaches größer. Gänge und Seitengänge und versteckte Stiegenaufgänge, im zweiten und dritten Stock Galerien, auch sie mit Shops aller Art, Design und Mode und Delikatessen. Ich verlaufe mich zwei Mal, als ich zu dem Tor zurück will, durch das ich hereingekommen bin. Der Einkaufspalast ist mir zu groß. Schön langsam kommt etwas von meiner Angst zurück, verfolgt zu werden. Das » GUM « wäre eine wunderbare Kulisse für eine Verfolgungsjagd. Auch ein Ort, an dem man sehr schwer sagen kann, ob man beobachtet wird und von wo aus. Ich blicke zur obersten Galerie hinauf. Ein Mann hat sich über das Geländer gebeugt und schaut in meine Richtung, ich starre ihn an, er zuckt zurück, ist für mich nicht mehr zu sehen. Zufall?
Ich finde einen Ausgang. Irgendwo an der Außenfront muss das italienische Café sein. Mir gegenüber der Rote Platz, Hunderte von Metern zieht sich die dunkelrote
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