Russen kommen
kann nicht einfach weiter gerade durch den Wald. Ich bleibe auf dem Weg, ich darf nur die ursprüngliche Richtung nicht aus dem Gedächtnis verlieren, sage ich mir und haste weiter. Wieder eine Biegung, diesmal in die richtige Richtung. Hoffe ich. Einen Kilometer, zwei. Kein Mensch ist unterwegs. Nur ich und die vielen Birken. Russische Dichter haben sie besungen, die lichten Birkenwälder, tatsächlich scheint die Sonne durch, Lichtspiele wie Glockenspiele ohne Ton, hellgrün-goldenes Flirren, aber mir sind das einfach viel zu viele Bäume. Diese geraden weißen Stämme, Soldaten, Soldatenfriedhof. Ich höre meinen Atem. Ich versuche, noch schneller zu gehen, mir ist, als wäre einer hinter mir. Ich drehe mich um. Der schmale Weg wie ein Band durch den Wald, Da ist keiner. Aber hinter einem Stamm, hinter jedem Stamm kann einer sein. Niemand passt hinter so einen Birkenstamm, Mira. Ich keuche weiter, drehe mich immer wieder um. Der Stamm dort hinten, der ist nicht bloß weiß, der ist an den Rändern braun, sind es Ränder? Ist es ein Mensch, der mich verfolgt? Mich immer weiter hineintreibt in den angeblich so idyllischen Wald? Vielleicht ein Geist, ein Faun, eine Nymphe. Wohnen die nicht in solchen Wäldern? Seit wann glaubst du an so etwas? Ich schüttle den Kopf. Würde mich ein Verfolger angreifen wollen, er hätte längst die Möglichkeit dazu gehabt. Und was, wenn er mich bloß hetzen will? Mir Angst machen möchte? Wieder eine Biegung. Vielleicht hat er Bandenkollegen verständigt, sie rotten sich zusammen, sie kreisen mich ein, und rundherum die Birken, deren Blätter mit der Frühlingssonne spielen.
Plötzlich stehe ich an einer asphaltierten Straße, die mitten durch den Wald geht. Die Straße muss zu einer Siedlung führen. Fragt sich bloß, wann. Nach einem, nach zehn, nach fünfzig Kilometern? Und: In welche Richtung soll ich gehen? Autos fahren vorbei. Soll ich eines stoppen? Laut Karla kann man in Moskau jedem Auto winken, und die meisten werden einen gegen einen geringen Fahrpreis mitnehmen. Aber ich kann kein Russisch, ich weiß nicht, wie das mit dem Autostoppen hier geht. Und außerdem sieht es nicht so aus, als wären wir hier in Moskau. Täusche dich nicht, Mira, du bist in Moskau. Ich sehe auf dem Stadtplan nach. Da ist der Park eingezeichnet. Er wirkt gar nicht so groß. Auf dem Plan. Alles eine Frage der Relation. Moskau ist riesig. Für österreichische Verhältnisse sowieso. Endlich Menschen. Zwei junge Männer und ein Mädchen am Straßenrand. Ich frage sie auf Englisch nach dem Weg. Das Mädchen scheint mich zu verstehen. Sie deutet auf den Waldweg, der auf der anderen Seite der Straße weitergeht. Hoffentlich kann sie wirklich Englisch. Ich hetze weiter, bin völlig durchgeschwitzt.
Diesen Weg zu nehmen war sicher ein Fehler, denke ich mir nach ein paar hundert Metern. Er wird schmaler, zwischen den Birken liegen Abfälle. Jedenfalls ein Zeichen, dass hier schon einmal Menschen waren. Will ich hier wirklich jemandem begegnen? Ich bin ganz allein. Anders als viele Frauen habe ich in Parkhäusern keine Angst, aber das ist Stadt, Technik, vertraute Zivilisation. Hier … Wenn mich hier jemand verfolgt, wenn mich jemand einholt, ich weiß nicht einmal, ob es eine Zeitungsmeldung wert wäre: »Frauenleiche im Ismajlowskij Park gefunden.« Wochen später. Jetzt renne ich schon fast. Außerdem bleiben mir nur noch fünfzehn Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Ich darf Sonja nicht verfehlen. Ich muss raus aus diesem verdammten Wald. Da, am Horizont: Es kann keine Fata Morgana sein, so etwas gibt es nicht im Birkenwald, eine Siedlung, Hochhäuser, ich hätte nicht gedacht, dass ich sie jemals schön finden, dass ich sie lieben würde. Dort muss auch die nächste Metrostation sein. Ich keuche weiter. Vor mir einige flache Gebäude, ich juble, ich komme der Zivilisation näher, Stacheldraht, verrosteter Zaun, aufgelassene Baracken, vielleicht war da einmal eine Fabrik. – Mitten im Wald? Fast schon am Waldrand, Mira. Plötzlich dicht neben mir lautes Bellen, ich zucke zusammen, durch den verrosteten Zaun drücken sich die Köpfe von drei großen, böse aussehenden Hunden, sie bellen, sie knurren, sie fletschen die Zähne. Kampfhunde. Bluthunde. Rottweiler. Wenn der Zaun irgendwo ein Loch hat … Jetzt renne ich endgültig, die Hunde hinter mir her, aber immer noch auf der anderen Seite des Zaunes. Hungriges Bellen, Knurren. Wer wohnt da? Wer hier lebt, der hat etwas zu verbergen. Eine
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