Russen kommen
asphaltierte Straße. Ich keuche, bleibe kurz stehen, ich muss wieder Luft bekommen. Da vorne, viel näher als gedacht, ist die Metrostation.
Menschen. Ich mag die Russen, sie sehen alle so geschäftig und harmlos und freundlich aus. Eine ältere Frau lächelt mir zu, ich lächle zurück. Die Sonne scheint. Es ist acht Minuten nach acht. Ich habe im Park überlebt. Sonja wird auf mich warten. Ich eile gemeinsam mit anderen eine Straße entlang, habe die unvermeidlichen schmutzig weißen Wohntürme schon passiert, dort hinten sind reich verzierte Gebäude, die aussehen, als ob sie zu einer Art Disneyland in Moskau gehörten. Ich komme an einer Burg aus Holz vorbei. Heißt es nicht, dass früher beinahe alle Häuser in Moskau aus Holz waren? Und da: der Beginn des Marktes. Doppelzeile mit überdachten Verkaufsständen aus Holz, ich sehe mich um. Keine Sonja. Wenn ich sie verpasst habe … Vielleicht hat sie jemand gefunden, bevor ich sie gefunden habe? Ein Stand mit heißen Piroggen. Ich habe schrecklichen Hunger. Eine Pirogge kostet dreißig Rubel. Was hat die Vorspeise gestern gekostet? Dreitausend Rubel. Dort köstlich duftende Spießchen, ich suche Sonja, natürlich. Aber ich muss auch so unauffällig wie möglich wirken. Hoffentlich erkenne ich sie überhaupt, ich habe sie nur so kurz gesehen. Im Skianzug. Dunkel und zierlich, so sehen hier viele junge Frauen aus. Gegrillte Hühnerherzen am Spieß, sicher eine Moskauer Spezialität. Ich deute auf einen der Spieße, ein Mann mit mongolischen Gesichtszügen wickelt das Ende in ein Stück Zeitungspapier. Ich ziehe mit den Zähnen ein Hühnerherz vom Spieß, heiß und zäh wie alter Gummi, aber doch sehr gut, rede ich mir ein. Eine Hand auf meiner Schulter. Ich schreie auf. Sonja Rostowjewa. Ganz dicht bei mir.
»Sie sind nicht pünktlich«, sagt sie und sieht sich gehetzt um. »Hat man Sie verfolgt?«
Ich schüttle den Kopf, und tatsächlich wäre es schwer gewesen, mich im lichten Birkenwald unbemerkt zu verfolgen.
Sie zieht mich weiter hinein in den Markt. Asiaten neben Europäern, ich sehe zum ersten Mal, wie viele Völker einander auf russischem Gebiet treffen. Atemberaubendes Durcheinander von Menschen und Waren und Menschen mit Waren und Waren, vor denen Menschen stehen. Jeans neben Jacken neben Lampen neben Kleiderschürzen. Wir bewegen uns in einer riesigen Halle, ein Gang mit Verkaufsständen nach dem anderen, dazwischen Quergänge. Und überall dürre Asiaten, die auf dem Rücken oder auf einem einfachen Holzkarren oder einem moderneren Lastenwagen riesige Säcke, Fässer, Ballen transportieren. Wer nicht ausweicht, wird überfahren, lautes Rufen, Menschentrauben vor einem Stand mit Uhren. Und die Decke: ähnlich wie im » GUM «, nur viel niedriger, nur, so wie die Waren hier, viel billiger. Kuppel aus milchig-durchsichtigem Material. Ist es Glas? Ich kann es nicht sagen.
Sonja zieht mich in die nächste Quergasse. Orientalische Lebensmittel, geräucherte Hühner neben lebenden Karpfen. Sie drängt mich in eine Ecke des Standes, die Besitzerin nickt freundlich, ich versuche zurückzulächeln. Kutteln und Fischleber und … Unter normalen Umständen ein Paradies für mich.
»Sie verfolgen mich«, sagt Sonja. »Mindestens zwei Gruppen. Vielleicht auch der Geheimdienst.« Ihr Deutsch ist beinahe akzentfrei.
»Wie sind Sie zu ›Direktinvest‹ gekommen?«, will ich wissen.
»Man hat mich gefragt, ob ich als Dolmetscherin nach Österreich und Deutschland fahre, man hat gesagt, für eine Firma von Dolochow. Sie haben sehr viel Geld geboten und auch etwas im Voraus gezahlt. Ich war bloß Dolmetsch.«
»Es war Dolochows Zwillingsbruder.«
»Wie soll man das merken?«, ruft sie. »Am Anfang hat alles seriös gewirkt, wir haben uns mit Geschäftsleuten getroffen, das meiste hat Andrej Sachow gemacht, Dolochow war im Hintergrund. Es ging um große Investitionen. Bei uns wird so viel investiert, heißt es. Ich habe mich nicht besonders darum gekümmert, was diese Firma tun will.«
»Wann sind Sie dahintergekommen, dass etwas mit ›Direkinvest‹ nicht stimmt?«
»Eigentlich erst bei der zweiten Reise. Da hat es Ärger gegeben. Ein paar der Investoren haben Dolochow nicht mehr geglaubt.«
»Und Sie?«
»Ich habe zuerst gedacht, er ist einfach ein großsprecherischer Mann, da gibt es bei uns so viele in Moskau, und vielleicht sind alle reichen Männer so. Aber dann habe ich gemerkt, dass er nur das Geld genommen hat. Kein einziges Projekt konnte er den
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