Russen kommen
einfach passiert. Ich habe vergessen, einen Topf vom Feuer zu nehmen, und der extrem einreduzierte Jus war dann kalt so fest, dass ich ihn in Würfel geschnitten habe. – Und was sagt ihr zu meinem Mozart im › MO ‹?«
Wir loben ihn auch für diese Idee.
»Die knallgrüne Farbe der Fischmayonnaise«, erinnere ich mich.
Manninger nickt. »Ich bin kein besonderer Fan der Molekularküche, mir geht es viel mehr um die Reduktion aufs Wesentliche, auf den ursprünglichen Geschmack, aber mein Vorgänger war ein Molekularfreak und er hat unter anderem ein kleines Fläschchen Chlorophyll zurückgelassen. Pflanzengrün pur, ein paar Tropfen davon in die Mayonnaise, und schon ist sie knallgrün.«
Ich habe den Russen-Mord über dem Essen schlicht vergessen, aber irgendwann einmal, nachdem wir schon öfter von Aufbruch geredet haben, fragt Karla: »Isst dieser Dolochow eigentlich auch bei dir?«
»Er war schon da. Aber ich kenne ihn nicht, wenn du das meinst. Er kommt nicht häufig.« Manninger grinst. »In den Restaurants Moskaus gibt es übrigens eine eigene These, wer Dolochows Zwillingsbruder ermordet hat.«
»Was?«, sage ich wenig intelligent. Aber nach so viel Essen und Wodka und Sekt und wieder Wodka …
»Ein geneppter Restaurantbesitzer. Oder ein empörter Koch. Dolochows Bruder hat nicht nur einmal versucht, in teuren Lokalen so zu tun, als sei er der Milliardär Boris und zahle später. Aber es hat sich herumgesprochen. Und der echte Dolochow steckt seither dem Ober immer schon im Vorhinein zehntausend Rubel zu, damit klar ist, mit wem er es zu tun hat.«
»Hat er die Schulden seines Bruders bezahlt?«
»Warum? Er hat ja nicht gegessen. Und ein Restaurant, das sich neppen lässt, ist selber schuld.«
Karla ist im Bad. Ich schaue auf das nächtliche Moskau. Das » MO « am Abend, am Vormittag die Hochhaussiedlung irgendwo in der Steppe, eine von sehr vielen ähnlichen Siedlungen, hat mir Karla erzählt. Enger Platz für Millionen Russen, die keine andere Wahl haben, als sich über eine solche Wohnung zu freuen. – Und irgendwo da draußen Sonja. Auf der Flucht. Ich gehe hinüber zum Schreibtisch, rufe die Mails ab, halte den Atem an.
Ich will Sie treffen. Morgen, acht Uhr, am Eingang zum Ismajlowo-Markt. Passen Sie auf, dass Sie nicht verfolgt werden, und kommen Sie unbedingt allein. Sonst kann ich Ihnen nicht trauen. Bitte! Herzlich, Sonja Rostowjewa.
»Natürlich weiß ich, wo der Markt ist«, sagt Karla, sie ist kaum weniger aufgeregt. »Aber du darfst dort nicht allein hingehen.«
»Ist die Gegend so gefährlich?«
»Die Gegend? Woher denn. Dort ist der größte Kleidermarkt Moskaus und daneben ein berühmter Handwerksmarkt.«
»Gibt es da nicht viele Eingänge?«
»Eigentlich nicht«, überlegt Karla. »Ich war schon Jahre nicht mehr draußen, es kommen alle über die eine Straße von der Metrostation her. Wenn ich mich recht erinnere, beginnt der Markt einfach mit einer Zeile von offenen Läden, in denen Lederjacken und so Zeug verkauft werden. Ich werde zumindest hinfahren mit dir. Ich kann ja Abstand halten und so tun, als ob wir uns nicht kennen.« Sie stutzt. »Verdammt. Kann ich nicht. Ich hab morgen um neun Uhr ein Interview mit dem Verkehrsminister. Das Kamerateam ist bestellt. Und so leicht komme auch ich nicht zu einem Termin mit einem Minister.«
»Es ist ohnehin besser, ich fahre allein.« Ich habe schlecht geschlafen, immer wieder habe ich von der zierlichen Russin geträumt, einmal ist sie aus dem »Zirben« in den Schnee geflohen und wurde von einem Hubschraubergeschwader verfolgt. Dann wieder habe ich gesehen, wie sie die Kremlmauer entlangläuft, neben mir steht Oskar und sagt: »Lass sie in Ruhe, die joggt ja bloß.«
Ich stehe um sechs Uhr auf, eine halbe Stunde bevor mein Wecker läutet. Ich ziehe mich an, Jeans, Turnschuhe, warme Jacke, in der Früh ist es in Moskau noch empfindlich kühl, vergewissere mich, dass ich die Kamera mithabe und beide Telefone. Eine Waffe wäre passender. Sonst noch was. Du kannst nicht schießen und willst es auch nicht.
Ich gehe die Straße zur Metro hinunter, ich wundere mich, wie viele Menschen schon unterwegs sind. Ich bin gestern Nacht mit Karla den Weg auf dem Stadtplan noch einmal durchgegangen: Die braune Ringlinie bis zur Station Kurskaja, sollte ich versehentlich die verkehrte Richtung erwischen, macht es auch nichts, die Linie fährt im Kreis rund um Moskaus Stadtzentrum. Bei Kurskaja umsteigen in die blaue Linie Richtung
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