Russen kommen
beinahe hätte ich einen Karren mit drei riesigen Säcken umgestoßen. Der dürre Lastenzieher schimpft, wütende Blicke aus Augenschlitzen. Er wird von einem chinesischen Geschäftsmann in weißem Hemd begleitet. Auch er sieht mich empört an. Quergang nach unten. Wieder Jeans, Jeans, Menschen, Jeans, Taschen, Menschen, Taschen, gefälschte Uhren, Lederwaren, Menschen, ein Stand mit duftendem Essen, ich darf mich nicht aufhalten lassen, heute nicht. Und irgendwann einmal bin ich draußen. Von Weitem sehe ich die Metrostation. Die Hochhäuser. Luft und Licht und Platz. Ich atme auf, gehe langsamer.
Kann das sein? Kann es sein, dass mich der braunhaarige, wieselartige Mann verfolgt? Er bleibt immer hinter mir. Ich gehe noch langsamer. Auch er wird langsamer. Toilettenanlage auf der Straße, drei blaue Plastikhüttchen. Ich zahle ein paar Rubel, und die weiß gekleidete dickliche Frau sperrt eine der Toiletten auf. Ich kann vor Aufregung nicht pinkeln. Ich gehe wieder nach draußen und sehe mich so vorsichtig wie möglich um. Der Mann scheint interessiert den Anschlag an einem Laternenmast zu lesen. Eine Welle Blut steigt mir ins Hirn. Mira, jetzt hast du wirklich einen Verfolger, keinen eingebildeten. Tu, als ob du ihn nicht bemerken würdest. Er darf nicht gewarnt sein, hier sind zu viele Leute, er kann dir nichts anhaben. Ich gehe in die Metrostation, kaufe ein Ticket, verdammt, wenn ich die Aufschriften lesen könnte, ich darf nicht in die falsche Richtung fahren, nicht noch weiter aus Moskau hinaus, dorthin, wo nichts mehr ist, vielleicht nicht einmal mehr eine Hochhaussiedlung. Ein Zug fährt ein. Roter Platz, rot heißt krasnij. »Krasnij Platz«, zische ich einem Mann verzweifelt zu. Er deutet in die Richtung der Metro, die gerade kreischend und quietschend stehen bleibt. Mein Verfolger wird mit mir einsteigen, er ist schon zu nahe. Ich mache es wie im Film, renne plötzlich in die andere Richtung, so als wollte ich zur entgegengesetzten Metro. Erst im allerletzten Moment drehe ich um, Sprint, Sprung in die Metro Richtung Roter Platz, die Türen gehen hinter mir zu. Ich keuche. Zwei Frauen sehen mich verwundert an. Mein Verfolger hat mich unterschätzt, er hat es nicht geschafft, ich sehe ihn auf dem Bahnsteig kleiner werden, verschwinden. Krasnij heißt nicht nur rot, sondern auch schön, hat mir Karla beigebracht. Das ist jetzt nicht wichtig. Ich muss mich darauf konzentrieren, wohin ich soll, werde auch ich jetzt gejagt? Was will man von mir? Zumindest vorerst habe ich meinen Verfolger abgehängt. Ich muss rechtzeitig umsteigen, ich muss zu Karla. Und was, wenn sie schon wissen, dass ich bei Karla wohne? Ich steige im Zentrum aus, aber das Zentrum ist groß, ich bin bei der falschen Station ausgestiegen. Karlas Wohnung liegt ein, zwei Stationen weiter. Ich will nicht zurück in die Metro. Was, wenn das Wieselgesicht den nächsten Zug genommen hat?
Das » MO « ist von hier aus nah, zumindest glaube ich das. Ich könnte zu Manninger. Dort sind Russen, die mir helfen können. Köche. Fast so etwas wie Heimat. Ich darf Karla nicht in Gefahr bringen. Es kann gut sein, dass sie nicht wissen, dass ich Kontakt mit Manninger habe. Ich hoffe es. Die Twerskaja, richtig, da ums Eck ist die Twerskaja. Heute habe ich keine Augen für die Läden, die Designermoden, die Delikatessen, ich renne beinahe, ich weiß, wo ich abbiegen muss. Ich renne ins » MO «. Es wird gerade für das Mittagessen gedeckt. Der elegante Ober von gestern Abend starrt mich entgeistert an.
»Wir haben noch nicht geöffnet«, sagt er in seinem gewählten Englisch.
»Ich muss zu Manninger«, keuche ich.
Fünf Minuten später sitze ich in einem kleinen Aufenthaltsraum hinter der Küche. Den hat uns Manninger gestern nicht gezeigt. Fotos von Pin-ups an den Wänden, ein großer Resopaltisch, Plastiksessel rundum. Sieht aus wie überall auf der Welt. Ich erzähle Manninger so wenig wie möglich, ich bitte ihn, Karla zu verständigen. Und zu warnen. Und ihr zu sagen, dass sie sich um Sonja kümmern soll, falls sie auftaucht. Vielleicht hat der Mann nicht sie, sondern mich verfolgt. Ich wünsche es ihr. – Was wünsche ich mir?
Manninger tut das Naheliegende. Zuerst gibt er mir eine heiße Hühnersuppe, dann bringt er mich in einen Raum mit Deko-Material und zieht eine aufklappbare Liege aus einem Eck.
»Darauf habe ich selbst schon öfter geschlafen. Hier kommt keiner herein, da müssen sie zuerst durch die Küche.«
Ich sehe mich um. Kein
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