Russen kommen
es gibt mehr her. Das muss man sich vorstellen, das war die Realität. Deine grünen Spinner hätten damals an Wichtigeres zu denken gehabt. Weißt du, dass deine Mutter im Hof für die Russen Ziehharmonika gespielt hat?«
»Oma hat einmal davon erzählt.«
»Sie war dreizehn, und um sie stand eine Menge heimwehkranker Russen. Ihre Mutter hat immer gefürchtet, dass sie sie verschleppen.«
»Oma hat aber auch erzählt, dass sie dem Russen, der in ihrer Wohnung einquartiert war, schnell beigebracht hat, sich nicht ins Tischtuch zu schnäuzen. Sie hat immer gesagt, das seien arme Bauernsöhne von irgendwo auf dem Land gewesen, die sich überhaupt nicht ausgekannt hätten. Sie scheint sie ganz gut im Griff gehabt zu haben.«
»Kann schon sein, sie war ein ziemlicher Feldwebel, deine Oma. Aber die Macht haben die Russen gehabt. Und wenn da einer übergeschnappt wäre, sie hätte nichts tun können.«
Ich mache mir nebenbei Notizen, keine Ahnung, ob ich jemals etwas von dem schreiben werde, doch ich möchte es auch nicht wieder vergessen.
»Maria?«
Mir ist entgangen, dass mein Vater zu sprechen aufgehört hat. Zu sehr war ich in Gedanken bei dem Arbeiterwohnhaus im Jahr 1945, gar nicht so lange her, und doch für mich unvorstellbar: Krieg. Besatzung. Und die Russen der Feind. Eigentlich gemeinsam mit den anderen Alliierten die Befreier. Aber wie empfindet man die, die einmarschieren? War das so viel anders als in Bagdad heute?
»Ich verspreche dir, ich lasse beide Seiten zu Wort kommen.«
»Darum geht es nicht: Jetzt, wo die Bürgerinitiativen endlich Ruhe geben, soll alles nicht noch einmal aufgebauscht werden. Jede Verzögerung kostet Geld. Steuergeld, um das klar zu sagen.«
»Das für etwas anderes besser eingesetzt wäre«, erwidere ich. Mir kommt eine Idee. »Richte dem Landeshauptmann, oder mit wem immer du da Kontakt hast, aus, dass ich gerne ein Interview mit ihm machen würde. Zum Thema Klimaschutz und Autobahnbau. Kann ja sein, dass das eine notwendig und das andere unvermeidbar ist. Ich bin offen.« Vielleicht weiß er auch, ob es tatsächlich der russische Präsident war, der für die rasche Überführung der toten Russen gesorgt hat.
»Ich werde es ausrichten. Ich muss in eine Sitzung. Lass Oskar schön grüßen.«
»Sorry, Vater, aber ich bin eben Journalistin … – Lass Mutter schön grüßen.«
Das Foto mit der braunen, staubigen Schneise in meinen Lieblingshügeln und dahinter eine Ahnung von Wien im Staub ist gut geworden, es bekommt einen zentralen Platz in meiner Reportage. Der Landeshauptmann hat mir kein Interview gegeben und, wie vermutet, der Bautenminister auch nicht, dafür der Umweltminister.
Ich richte die Seiten ein. Zwischendurch überlege ich, wie es wohl war, als meine Mutter damals als Mädchen für die Russen Ziehharmonika gespielt hat. Für mich fast so weit weg wie das Mittelalter. Krieg. Kann ich mir so etwas vorstellen? Überlebensangst. Wir hatten eine Schuldirektorin, die uns oft mit »den Russen« gedroht hat. Wir haben über sie gelacht, über diese kleine Person in den klappernden Stöckelschuhen, die sich auf der Schultreppe aufgestellt hat und, wenn wir wieder einmal zu spät dran waren, schrie: »Wartet nur, bis die Russen kommen! Dann macht ihr so etwas nicht mehr!« Als ich im Handarbeitsunterricht meinen Handarbeitskoffer einfach ausgeleert und gestreikt habe, da kam sie in die Klasse gestöckelt, hochroter Kopf. »Wenn die Russen kommen«, hat sie geschrien, »dann kannst du einpacken!« – »Meinen Handarbeitskoffer?«, habe ich so lässig wie möglich geantwortet. Die ganze Klasse hat gekichert. Und der nächste Dreier in Betragen war mir sicher. Wie alt war die Direktorin damals? Keine Ahnung, aber wohl alt genug, um den Einmarsch der Russen miterlebt zu haben! Wer weiß, wie viel Angst sie damals ausgestanden hat? Sonst wäre es wohl kaum noch in den Siebzigerjahren ihre schlimmste Drohung gewesen, dass die Russen kommen könnten. »Russen kommen«, kritzle ich zu den Notizen, die ich während des Telefonats mit meinem Vater gemacht habe. Dann kümmere ich mich wieder um näherliegende Probleme. Die Nordautobahn. Die kommt jedenfalls. Gar nicht schlecht, wenn jemand darüber schreibt.
Ich bin von der fertigen Story trotzdem nicht besonders begeistert. Dem Chefredakteur gefällt sie sehr gut. Er lobt mich, aber schließlich war das Thema ja seine Idee. Wenn jemand bei ihm gegen die Umwelt-Reportage interveniert hat, dann erfahre ich jedenfalls nichts
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