Russen kommen
nachdenken kann. Aber diesen Fall der Chronik zu überlassen, diesem eitlen Ressortchef, der so gerne Chefredakteur geworden wäre? Sicher nicht. Wir hetzen den Graben entlang, als ob der Tote noch zu retten wäre. Beim Hauseingang kein Anzeichen von Polizei. Feldner hat einen Schlüssel. »Ich schau nach der Wohnung, wenn mein Freund nicht da ist«, erklärt er.
»Und Ihre Wohnung liegt gleich daneben?«, frage ich. Als Topmoderator hat er sicher nicht schlecht verdient. Und als Chefredakteur des »Magazins« wird man ihm auch einiges zahlen.
»Ich wohne im 8. Bezirk«, erwidert er mit einem kurzen Seitenblick.
Die Putzfrau erwartet uns am Wohnungseingang. Sie stammt ihrem Akzent nach wohl aus der Türkei, eine kleine Frau mit ausladenden Hüften, einem weiten blau geblümten Rock und weißer Bluse. Ihr Alter lässt sich schwer schätzen, sie könnte so alt sein wie ich. Sie sieht aus, als würde sie jede Minute zusammenbrechen. Sie schüttelt andauernd den Kopf und klagt: »So schlimm, so schlimm.« Wir gehen dem Chefredakteur nach, er wird immer langsamer, schließlich holt er hörbar Luft und tritt vom großen offenen Wohnraum auf die Terrasse. Er reißt die Augen auf, ich starre zu ihm, dann auf das, was da auf einem Liegestuhl liegt: Mann. Dort, wo die Augen waren, Fliegen und etwas Weißes. Maden, denke ich und versuche mich zu konzentrieren. Im Mund steckt ein Knebel. Seine nackten Arme sind voller schwarzer Flecken. Pest, denke ich, aber wie passt es dazu, dass er an den Handgelenken mit Schnüren an den Liegestuhl gebunden ist? Unsäglicher Gestank. Dass keiner der Nachbarn etwas bemerkt hat? Ich sehe mich um, hier gibt es keine Nachbarn, zumindest keine anschließende Dachwohnung.
Der Chefredakteur steht in einem Eck der Terrasse und kotzt in den Topf einer großen Palme. Bin ich schon so abgebrüht, dass mir bei so etwas nicht einmal schlecht wird? Gerda fotografiert. Wir werden die Fotos nicht veröffentlichen können. Wir dürfen keine Spuren am Tatort zerstören. Ich muss sofort Zuckerbrot anrufen. Trotzdem gehe ich noch näher zum Toten hin. Der grauenvolle Geruch hat nicht mit Verwesung zu tun oder nicht nur, der Tote liegt in einer Mischung aus Urin und Kot, eine braune, aufgetrocknete Masse unter ihm, was sollte das sonst sein? Ich zwinge mich, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich weiß, wer das ist. Ich hab ihn schon gesehen. Dolochow.
Mit zitternden Fingern suche ich nach Zuckerbrots Nummer, wähle sie, bete zu Gott und allem, was mir sonst nicht heilig ist, dass er sofort drangeht. Zuckerbrot wurde vor Kurzem zum provisorischen Leiter der Wiener Kriminalpolizei bestellt, seinen Vorgänger hat man mit Verdacht auf Amtsmissbrauch suspendiert. Hoffentlich hat er mit dem Job nicht auch sein Mobiltelefon gewechselt. Ich werde erhört. Zuckerbrot fragt nicht viel, nicht einmal, woher ich Dolochow kenne. Er flucht nur kurz und befiehlt uns, nichts anzufassen. Das hatte ich auch gar nicht vor. Ich atme so flach wie möglich durch den Mund, ich halte es hier draußen trotzdem nicht mehr aus, ich gehe in den Wohnraum. Der ist dem in Oskars Wohnung sehr ähnlich, ich sehe mich um. Dolochow scheint wenig Spuren hinterlassen zu haben, wer weiß, wie oft er diese Wohnung benutzt hat. Helle Sitzgruppe, ein alter Schreibtisch, viele Bücherregale. Auf dem runden Esstisch ein Wasserglas, ich schnuppere: Scheint tatsächlich Wasser drin gewesen zu sein. In der Küche eine Flasche Wodka, halb voll. Den Kühlschrank öffne ich mit einem Papiertaschentuch vor den Fingern. Eine Packung Milch, etwas vergammelte geschnittene Wurst in einem schlampig zusammengefalteten Wurstpapier, ein Stück Emmentaler. Jetzt erst bemerke ich, dass die Putzfrau hinter mir steht.
»Hat nicht da gegessen. Immer auswärts.«
»Wie war er?«
»Habe ihn nur einmal gesehen.« Sie hebt einen Finger in die Luft, als ob sie Anklage erheben möchte.
»Haben Sie andere Besucher gesehen? Freunde von ihm? Freundinnen?«
»Niemand. Gar niemand. Bettwäsche …«
»Was ist mit der?«
»Da muss eine Frau gewesen sein.«
Die Putzfrau dreht einen Zettel in ihrer Hand.
»Was ist mit dem?«, frage ich.
»Ist auf Boden gelegen. Im Zimmer.« Sie streckt ihn mir entgegen. Ich nehme ihn vorsichtig. Will keine Spuren verwischen. Wobei: Das ist jetzt schon egal, sie hat ihn ja auch angefasst. Kyrillische Buchstaben. Wohl Russisch. Ich rufe Gerda her. Sie versteht sofort und fotografiert den Zettel,
»Vielleicht kann er Russisch«, sagt sie und deutet
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