Russen kommen
ich fahre hoch. Oskar stürzt auf mich zu, nimmt mich in die Arme. »Ich dachte, du seist …« Erst langsam wird mir bewusst, wie das ausgesehen haben muss: Ich mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. Der klassische Pistolenmord.
»Tut mir leid«, sage ich zu Oskar, und aus irgendeinem Grund beginne ich zu weinen. Er hält mich fest und streichelt meinen Rücken, etwas unbeholfen. Der weltgewandte Oskar. Er kann mit Tränen nicht viel anfangen. Zum Glück weine ich selten.
»Was ist passiert?«, fragt er dann und streichelt meine Wange.
Ich geniere mich. »Eigentlich gar nichts«, sage ich und halte Ausschau nach einem Taschentuch.
»Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?«, will er wissen.
Guter, praktischer, geliebter Mann. Ich vergesse selten das Essen, aber wenn ich es recht bedenke, war das heutige Frühstück meine letzte Mahlzeit.
»Wir gehen essen«, sagt er bestimmt, während ich mich schnäuze.
Ich schüttle den Kopf. »Ich will nicht weg.« Hier fühle ich mich sicher. Jetzt, wo Oskar da ist.
Er runzelt die Stirn. »Es gibt irgend so einen neuen chinesischen Zustelldienst … Aber ob der gut ist …«
Ich nicke begeistert. Wir sehen die Bestellliste durch, und Oskar ordert so viel, wie nicht einmal vier hungrige Skifahrer essen könnten. Wie komme ich auf Skifahrer? Vergiss sie, Mira. Wie schön es am Arlberg war, damals mit Oskar, als wir im warmen, bernsteinfarbenen ›Zirben‹ angestoßen haben. Und dann …
»Weißt du, wo die Hot Sauce ist?«, fragt Oskar eifrig von der offenen Küche her.
»Im zweiten Schrank. Unterstes Fach.« Vielleicht bin ich ja doch schon zu Hause hier.
Das chinesische Essen ist gar nicht übel, wir verfeinern es mit Hot Sauce, dunklem geröstetem Sesamöl, Wasabi und dieser köstlichen süßlichen Sojasauce, Kejup Manis. Dazu eine Flasche Riesling aus dem Weinviertel. Erst als ich zufrieden im Sessel lehne, geht Oskar ins Vorzimmer zurück und holt seine Ledertasche zum Schreibtisch. Er sieht die aufgeschlagene Zeitung. »Was hast du da herumgekritzelt?«, fragt er und versucht es gleichzeitig zu entziffern. »Uni Welser Professor Flemming? Was ist das?«
»Kennst du einen Universitätsprofessor Welser?«
»Natürlich, aber da könnte es mehrere geben.«
»Natürlich?«
»Er ist Professor für deutsche Rechtsgeschichte, etwas schrullig, aber sehr nett. Ein ruhiger Mensch. Er hat sich sehr früh habilitiert, das weiß ich, er war noch keine dreißig. So eine Art Junggenie in seinem Fach.«
»Ich hab von ihm noch nie etwas gehört.«
»Wie sehr hast du dich für deutsche Rechtsgeschichte interessiert?«, lächelt Oskar.
»Nicht besonders. Und ich hab den ersten Studienabschnitt auch nicht in Wien gemacht.«
»Warte mal. Vielleicht erinnere ich mich«, überlegt Oskar. »Ja, er hat sich über die Vorläufer des Grundbuches habilitiert, unter besonderer Berücksichtigung mittelalterlicher Bräuche zur Grenzfeststellung.«
»Was du nicht alles weißt.« Ich zweifle, ob das unser Professor Welser sein kann. Klingt irgendwie nicht nach Skifahrer.
»Du hast es sicher gelernt: Umgänge um ein Dorf, am Ende eines Grundstückes wurde dem jüngsten der Knaben eine kräftige Ohrfeige gegeben, damit er sich auf Lebenszeit merke, wo es endet.«
»Und das hat es wirklich gegeben?«
»Welser hat nachgewiesen, dass man sich schon im Mittelalter nicht auf die ›gesunde Watschn‹ allein verlassen hat. Es hat fast überall Aufzeichnungen gegeben.«
»Kennst du ihn besser?«
»Warum? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der etwas mit deinem Oligarchen zu tun hat. Oder«, er sieht mich hoffnungsvoll an, »… bist du an einer anderen Story dran?«
Ich schüttle den Kopf. »Ein Universitätsprofessor Welser aus Wien hatte am Arlberg Kontakt mit den Russen von ›Direktinvest‹. – Kann dein Welser Ski fahren?«
»So gut kenne ich ihn auch wieder nicht.«
»Ist er verheiratet?«
»Er lebt getrennt, das weiß ich zufällig. Ein Kollege von mir hat ihm angeboten, seine Scheidung zu machen, aber Welser war es zu teuer. Hans, dieser Kollege, hat mit ihm studiert. Ich könnte ihn fragen …«
»Lieber nicht«, sage ich schnell. »Oder doch. Aber ganz unauffällig: Fährt Welser jedes Jahr in den ›Sonnenhof‹?«
Oskar runzelt die Stirn und sieht mich an. »Wann soll er dort gewesen sein?«
»Zur selben Zeit wie wir.«
»Dann ist es ein anderer Welser. Ich hätte ihn erkannt.«
»Das Hotel ist nicht so klein«, sage ich, aber meine Hoffnung sinkt.
»Was soll er
Weitere Kostenlose Bücher