Russen kommen
Prospekt in ihre Tasche, wir öffnen vorsichtig die Tür. Niemand zu sehen. So rasch wie möglich und so langsam wie nötig, um nicht aufzufallen, gehen wir Richtung Lift. Eine Tür wird geöffnet. Ich packe Vesna am Arm. Sie schüttelt meine Hand ab und grüßt die beiden Frauen, als würde sie hier schon jahrelang ein- und ausgehen.
Der Portier scheint über seiner Zeitung zu dösen. Wir schleichen an seinem Glasverschlag vorbei, hinaus. Jetzt rächt es sich, dass wir kein Auto dabei haben. Von hier bringt uns nur die Straßenbahn weiter. Und es dauert eine halbe Stunde, bis wir im Zentrum sind. Taxi. Aber wie lautet die Leipziger Taxirufnummer? Ich schaue zurück zum Verwaltungsgebäude von »Computer.Com«. Es wird nicht lange dauern, und Flemming weiß, dass er einen schweren Fehler gemacht hat. – Und dann?
»Straßenbahn. Ich habe Hotelzimmer nur zwei Stationen von hier«, sagt Vesna. Wir gehen rasch weiter, die Straße entlang, an anderen Bürogebäuden vorbei, zurück zur Station, an der wir eine Stunde zuvor ausgestiegen sind. Schnurgerade Geleise auf einem ebenen steppenartigen Gelände, das vielleicht auch einmal verbaut sein wird. Jetzt wächst darauf schütteres Gras. Der Wind bläst. Im Wartehäuschen der Station drängen sich ein älterer Mann mit Hund, eine Frau mit übergewichtigem Kind und zwei Mädchen in bauchfreiem T-Shirt. Mich fröstelt, wenn ich sie bloß ansehe. Die Straßenbahn kommt nur zwei Minuten später.
Der Waggon ist spärlich besetzt. Wer sollte wissen, dass wir hier einsteigen? Trotzdem sehe ich mich vorsichtig um. Ein junger Mann in schwarzer Lederjacke. Er liest. Oder tut er bloß so? Eine ältere Frau in einem abgetragenen hellblauen Mantel. Sie liest. Oder tut sie bloß so? An der nächsten Station steigen zwei Männer ein. Sie wirken nicht, als wären sie hinter uns hergehetzt. Sie setzen sich. Der Blonde zieht sein Mobiltelefon aus der Tasche, spricht leise. Der andere zieht ein Buch heraus.
»Lesen hier alle?«, frage ich Vesna.
Sie grinst. »Sind nicht alle, aber viele. Leipzig ist ziemlich stolz auf Kultur und so. Hätte mich da lieber als Autorin ausgeben sollen statt als Putzfrau.«
Wir sitzen in Vesnas Zimmer. Schmales Einzelbett. Schreibtischplatte unter dem Fenster, das auf eine Straße geht. Ein kleiner Fernseher auf der Schreibtischplatte.
»Flemming hat gewusst, jetzt muss er den Prospekt vernichten«, sagt Vesna.
Auf der Platte liegt die aktuelle Fernsehzeitschrift. Und der Prospekt von »Direktinvest«. Er ist aufwendig gestaltet, acht Seiten, auf denen potenziellen Investoren klargemacht werden soll, dass man in Russland enorm viel Geld verdienen kann. Dass sie großes Glück hätten, weil der berühmte Oligarch Dolochow nun auch in Mitteleuropa Investoren suche. Für Projekte »in den besten Entwicklungsgebieten Moskaus« und für Projekte an der Schwarzmeerküste. »Boris Dolochow hat in Sotschi investiert, als noch keine Rede von der Kandidatur für die Olympischen Winterspiele war. Doch Sotschi ist erst der Anfang. Die ganze Schwarzmeerküste wird zu einem gigantischen Sportzentrum, das rund um das Jahr in Betrieb ist. Die schneebedeckten Gipfel des Kaukasus garantieren modernstes Skivergnügen, die unentdeckte Küste des Schwarzen Meeres luxuriöse Bademöglichkeiten für das 21. Jahrhundert.«
Eindrucksvoll. Hätte ich Geld, ich weiß nicht … Auf einer anderen Seite werden die künftigen Möglichkeiten zur Energiegewinnung in Sibirien beschrieben.
»Nur eines verstehe ich nicht: Warum glauben die Leute, dass der reiche Dolochow sie braucht, um in Russland Geld zu machen?«, murmelt Vesna.
»Das steht da«, erwidere ich und lese: »Boris Dolochow ist ein echter Europäer. Er investiert in ganz Europa. Und er will, dass Europa bei ihm investiert. Nur durch Austausch entsteht Stabilität. Politisch wie wirtschaftlich.«
»Nicht dumm«, nickt Vesna.
Es werden Gewinne von mehreren hundert Prozent pro Jahr versprochen, das Kapital sicher in Moskauer Banken, zusätzlich abgesichert durch das unermessliche Vermögen Dolochows. Rechenbeispiele folgen, Angaben, wie hoch Dolochows Gewinne in den vergangenen Jahren waren. Atemberaubend – wenn es stimmt. Das ist eben die Frage: Was stimmt von dem Ganzen?
Jedenfalls behauptet Boris Dolochow, mit dieser Firma nichts zu tun zu haben. Sein Bruder Wassili, der bisher mit allem gescheitert war: Wäre er imstande gewesen, einen so eindrucksvollen Prospekt zu entwickeln? Wäre er gar imstande gewesen, solche
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