Russische Freunde: Kriminalroman
Gleichzeitig hatte er mir das Du angeboten, mich aufgefordert, ihn Oka Andrejewitsch zu nennen.
Sein richtiger Vorname war natürlich Oktjabrin. Seine Eltern hatten den großen Oktober ehren wollen, indem sie ihren Sohn nach ihm benannten. Ich vermutete, dass Oka gegenwärtig Stillschweigen über diese historischen Wurzeln bewahrte und die Kurzform seines Namens bevorzugte.
Wir saßen im Speisesaal des ehemaligen Kulturhauses und tranken Tee. Bei unserer Ankunft war der Tisch bereits gedeckt gewesen: Teekanne und Tassen, Brot und Butter, Wurst und Salzgurken.
Ich musterte Oka verstohlen, versuchte zu erkennen, ob er gealtert war. Seine Haare waren schütter geworden, in den Augenwinkeln hatten sich bleibende Falten eingenistet, und sein ganzes Wesen war behäbiger als früher.
»Wir sind ziemlich gleichaltrig«, ertappte er mich wie einen Fischwilderer am fremden Netz.
»Du bist gut in Form«, lobte ich. »Was treibst du so? Ich wusste, dass du in Sokol bist. Aber was machst du hier eigentlich?«
»Eigentlich müsste ich ja eher dich fragen, wo du abgeblieben bist«, sagte Oka. Ich versuchte zu erkennen, ob seine Worte einen Vorwurf enthielten. »Na ja, ungefähr weiß ich es ja, obwohl du ein wenig überraschend verschwunden bist«, fuhr er fort, ließ meine neugierige Frage unbeantwortet.
»Die Lage hatte sich verändert. Verdammt noch mal, das ganze Land war verschwunden«, erklärte ich, als ginge es um eine Naturkatastrophe.
»Aber, aber, Vitja. Dein Umzug nach Finnland ist nicht gerade im Handumdrehen vonstattengegangen. ›Rücksiedler‹ – das ist wohl der Fachausdruck?«, spottete Oka gutmütig.
»Ja«, nickte ich und überlegte, wie weit ich meine Entscheidung begründen sollte. »Du musst das verstehen, Oka. In meinem Pass stand die richtige Nationalität, ich konnte Finnisch und … und hier war alles durcheinander. Ich hatte keine Arbeit, zum Teufel, von den Spezialtruppen war nichts mehr zu hören, und Sporttraining hatte hierzulande auch nicht gerade die höchste Priorität«, ereiferte ich mich.
»Und dein Liebesleben damals … du hast dich sicher einsam gefühlt«, sezierte Oka das Geheimnis, demonstrierte, dass er über alles informiert war. Er bestrich eine Scheibe Brot und spießte eine kleine Gurke auf, stieß mit der Gabel zu wie mit einem Fischspeer.
»Beruhige dich, Viktor. Ich stehe doch auf deiner Seite. Und ich weiß, dass du nicht ganz undankbar gewesen bist«, erinnerte er mich an die kleinen Gefälligkeiten, die ich hatte leisten müssen. »Es ist dir damals wohl gar nicht aufgefallen, dass dein Antrag ungewöhnlich schnell bearbeitet wurde. Dafür haben wir gesorgt! Und jetzt? Du hoppelst über die Etappenroute und bildest dir ein, du könntest den kleinen Major vor Ort dermaßen einschüchtern, dass er den Mund hält. Natürlich hat er weisungsgemäß Meldung gemacht. Und zwar mir, zu deinem Glück.«
Ich starrte Oka an. Ich erinnerte mich, dass ich auch früher ähnlich verwirrt vor ihm gesessen hatte, während der Ausbildung. Ich hatte mir irgendwelche Erklärungen für missratene Übungen oder unerlaubte Abkürzungen bei einer Orientierungsaufgabe aus den Fingern gesogen. Oka hatte mich mit einem einzigen Schulterwurf auf die Matte befördert, hatte wie nebenbei zu erkennen gegeben, dass er von Anfang an über den tatsächlichen Sachverhalt informiert gewesen war.
»Oka, trotz allem habe ich dir immer vertraut«, flüsterte ich beinahe.
»Viktor, ich wusste, dass du kommst. Und ich bin froh, dass du mich um Hilfe oder Rat bittest. Ich bin nicht verpflichtet, dir zu helfen. Aber ich will es tun«, erklärte Oka. »Jetzt erzähl mir, was dich bedrückt. Du bist traurig. Wer ist gestorben?«
»Niemand. Noch nicht«, antwortete ich.
»Aha«, nickte Oka. »Und wer hat dich verraten?«
Ich zögerte den Moment hinaus. Wenn ich den Namen laut aussprach, würde das Böse hervorspringen, es würde wahr und sicher und unwiderruflich.
»Mein bester Freund. Waleri Karpow.«
18
Medwedkin und Korhonen saßen vor dem Fernseher. Korhonen fläzte sich im Sessel, es fehlte nicht viel, und er wäre auf den Boden gerutscht.
»Die Russen verlieren gegen Portugal«, überraschte er mich. Ich hatte geglaubt, er sei eingenickt.
»Kolja sagt, das ganze Land ist durcheinander. In der Mannschaft gibt es irgendwelche Konflikte. Das Volk erwartet, dass Putin persönlich eingreift. Ich weiß allerdings nicht, ob der gute Wladimir wirklich der passende Coach wäre. Er hat es doch eher
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