Russische Freunde
dem Erbschaftsamt hatte mich nicht weitergebracht, aber ich hatte mich wieder gefangen. Nicht schon wieder aufgeben, nahm ich mir vor. Ich versuchte, an den Schafstall zu denken und an die Klarheit, mit der ich damals einen Entschluss gefasst hatte. Ich wollte mir Tobias’ Unterlagen noch einmal anschauen, ohne mich auf AdFin zu fixieren, vielleicht hatte ich mich da in etwas verrannt. Wenn sich Tobias nächtelang mit etwas befasst hatte, mussten davon Spuren zu finden sein.
Die Schlange vor der Migros-Kasse war lang und bewegte sich kaum. Ich bereute es, gekommen zu sein. Alle schoben prall gefüllte Einkaufswagen vor sich her. Alle, bis auf den Herrn direkt vor mir, der eine tiefgefrorene Lasagne, zuckerfreien Orangensaft, Weight-Watchers-Käse und fünf Tafeln Schokolade in seinem Körbchen trug. Die Kassiererin stand, einen Sack mit Zwiebeln in der Hand, auf, um das Gemüse zu wägen.
«Also, ehrlich», entschlüpfte mir leise. Meine Laune war immer noch nicht besonders, egal, wie ich mich bemühte.
Der Mann drehte sich um und registrierte meinen bis auf eine kleine UP -Milch leeren Einkaufskorb.
«Wollen Sie vorgehen?»
Es war Stefan Ricklin, der Polizist, der mich verhört hatte. Wir begrüssten uns, ich streckte ihm meine Hand entgegen. Er schüttelte sie, nach kurzem Zögern.
«Gibt es etwas Neues in dem Fall?», die Frage rutschte mir heraus. Ich nahm nicht an, dass er mich über Ermittlungsergebnissen informieren durfte.
Ricklin liess mich vor, ich zwängte mich zwischen ihm und aufgeschichteten Panettone-Schachteln vorbei.
«Die Aufklärungsquote bei Eigentumsdelikten ist nicht so hoch, wie wir es gerne hätten», meinte er zögernd. «Wir müssen die Einbrecher praktisch auf frischer Tat erwischen. Dafür klären sich dann ab und zu verschiedene Delikte gleichzeitig, wenn uns einmal eine Einbrecherbande ins Netz gegangen ist.»
«Ist denn die Wohnung oberhalb von Ihrer schon wieder vermietet?», fragte er nach einer Weile.
«Sie wissen also, dass Juri Salnikow gestorben ist?»
Er nickte zur Antwort, mehr mit den Augen als mit dem Kopf.
«Nein, die Wohnung ist noch nicht einmal geräumt. Ich nehme nicht an, dass sie schon ausgeschrieben wurde.»
Ich stellte die UP -Milch, die ich fürs Büro gekauft hatte, auf das Förderband, Ricklin legte seine Waren daneben, den Weight-Watchers-Käse deckte er mit den Schokoladen zu. Als sich das Förderband bewegte, kippte der Orangensaft seitwärts weg, und wir griffen gleichzeitig nach der Flasche. Ich war schneller und für einen Moment berührte seine Hand die meine. Warm, trocken, bestimmt.
«Ups. Glück gehabt», meinte ich. Ricklin sagte nichts. Ich zahlte und verabschiedete mich.
Ein Polizist. Der Weight-Watchers-Käse und der Orangensaft waren für seine Frau, die Schokolade für die Kinder. Und die Lasagne? Frau und Kinder verreisen über das Wochenende, er aber hat Dienst und sorgt mit Lasagne vor. Diesen Fall hatte ich gelöst. Immerhin. Was hätte ich denn vorhin noch sagen können? Worüber hätten wir noch sprechen können? Kommen Sie bei Gelegenheit ruhig wieder einmal bei mir vorbei, auch ohne Einbruch? Ich wusste nicht einmal, was mit ihm reden. Wie gesagt, ein Polizist. Ich ging zurück in mein Büro.
Mit sehr viel Geduld hatte ich Testamente und Nachlassentscheide studiert, mich durch juristische Formulierungen und Hinweise auf mir unbekannte Verordnungen und Gesetzesartikel gekämpft. Ich hatte Siegelungsprotokolle, Familienregisterauszüge, Erbschaftsinventare und Korrespondenzen mit Notaren durchgesehen, die Unterlagen von mehreren Erbschaftsfällen. Für ein Dossier konnte ich ein gewisses Interesse aufbringen, weil die Liegenschaft, eine dreistöckige Jugendstilvilla im Kirchenfeldquartier, seit kurzem dem Historischen Museum als Aussenstelle diente. Der Kauf der Villa durch die Stadt war im Frühsommer in den Zeitungen breitgeschlagen worden, und es hatte deswegen Diskussionen im Stadtrat gegeben.
Besitzerin der Villa war eine Anna Herzig gewesen, geboren 1918. Jahrelang war das Gebäude von einer Schule als Geschäfts-und Unterrichtslokal genutzt worden, später stand es leer. Als Anna Herzig ohne Nachkommen starb, ging die Villa an eine Katrin Näf. Die Formulierung des etwas unleserlichen, in einer ältlichen Schrift verfassten Testaments liess durchblicken, dass Katrin Näf sich um die alte Frau gekümmert hatte. Offensichtlich hatte Näf kein Interesse an der Liegenschaft, sie musste sie anschliessend verkauft haben,
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