Russische Freunde
christlichen Anlässen schleppen. Bettinas jüngere Schwester, die gerade eben fünfzehn Jahre alt geworden war, drehte anders durch, wie Bettina sagte. Sie hatte beschlossen, die Trauer der Familie zu ignorieren, und forderte rücksichtslos ihre Rechte als pubertierende Tochter. Sie kam und ging, wie es ihr gerade passte, und Bettina fragte sich, ob sie überhaupt noch den Schulunterricht besuchte. Das schien niemandem ausser Bettina aufzufallen, und wenn Bettina ihre Mutter darauf ansprach, brach diese in Tränen aus. Bettina war allein, und niemand half ihr dabei, den Tod ihres Bruders zu verstehen. Sie tat mir leid.
Wir sassen bis Mitternacht in dem gläsernen Warteraum. Wir hatten mögliche Motive für einen Selbstmord erwogen und wieder verworfen. Wir hatten uns über Gründe für einen Mord den Kopf zerbrochen, aber Bettina konnte sich keine vorstellen. Über Tobias Arbeit im Erbschaftsamt wusste sie nicht Bescheid. Von Perren hatte sie noch nie gehört. Wir versuchten, den Todesabend zu rekonstruieren. Bettina war zu Hause gewesen, als Tobias kam und sich umzog, um das Haus noch einmal mit dem Fahrrad zu verlassen. Sie hatten kaum miteinander gesprochen, aber sie schwor, dass sie es gemerkt hätte, wenn er sich schlecht gefühlt hätte. Ihr Zimmer lag direkt neben dem von Tobias, sie hatten sich durch die offenen Zimmertüren hindurch begrüsst, ohne sich wirklich zu sehen. Bettina war auf dem Bett gelegen und hatte Zeitung gelesen, halb beschäftigt mit der Lektüre, halb abgelenkt durch die Anwesenheit des Bruders. Sie meinte sich zu erinnern, dass er irgendwann leise vor sich hin geflucht hatte, weil er den Fahrradhelm nicht fand. Dann hatte er mit jemandem telefoniert, von seinem Handy aus, sie hatte nicht wirklich zugehört, aber nichts an dem Gespräch hatte sie aufhorchen lassen. Kein verdächtiger Tonfall, nichts Aussergewöhnliches. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, dass er sogar vor sich hin pfiff, als er sich umzog. Alles völlig normal. Es war unerklärlich.
Ich brachte sie mit dem Auto nach Hause. Ich machte mir Sorgen um sie, sie wirkte völlig durchfroren. Wir verabredeten, gemeinsam den Ort anzuschauen, an dem Tobias in die Kander gesprungen war, und ich hatte das Gefühl, dass sie froh wäre um die Begleitung. Zum Abschied umarmten wir uns. Nur meinen Einbruch in das Haus ihrer Eltern hatte ich nicht erwähnt.
Diesmal dauerten meine Ermittlungen im Erbschaftsamt keine fünf Minuten. In Erwartung der verständnisvollen älteren Dame, mit der ich beim letzten Mal gesprochen hatte, betrat ich das Sekretariat. Stattdessen traf ich auf jemanden, der wenig gewillt schien, sich von seiner Lektüre zu trennen. Ob es sich nun um etwas Geschäftliches handelte oder nicht. Ich wartete einen Moment lang in der Tür, dann wandte ich mich an den hellbraunen Scheitel.
«Entschuldigen Sie, dürfte ich Sie etwas fragen? Ich war vor ein paar Tagen schon einmal hier.»
Es kostete die junge Frau einige Überwindung aufzusehen: «Ja, bitte?»
«Ich war schon einmal hier. Ich bin eine Tante von Tobias Bucher.»
In Erwartung einer Reaktion stockte ich einen Moment.
«Ja?»
«Tobias, der hier Praktikant war, hat sich das Leben genommen.»
«Ich habe davon gehört.»
Die hellblauen Augen im runden, jungen Gesicht blickten mir unbewegt entgegen. Zu ihrer Verteidigung sagte ich mir, dass sie vielleicht erst vor kurzem angefangen hatte, hier zu arbeiten. Es musste nicht sein, dass sie Tobias gekannt hatte.
«Sie müssen mich entschuldigen. Wir, ich meine Tobias’ Familie, wir versuchen immer noch zu verstehen, weshalb er sich das Leben genommen hat. Er bleibt für uns vieles so unverständlich.»
«Ja, und?»
«Wir haben vor kurzem festgestellt, dass sich Tobias mit Erbschaftsangelegenheiten befasst hat, die ihn vielleicht irgendwie belastet haben. Die Liegenschaft im Kirchenfeld, die schliesslich von der Stadt übernommen wurde. Ein Notar namens Perren war damit betraut. Vielleicht kennen Sie die Angelegenheit.»
«Nein.»
«Sie müssen entschuldigen, aber wir studieren an allem Möglichen herum, versuchen uns vorzustellen, was Tobias aus der Bahn geworfen haben könnte. Wir haben uns gefragt, ob es möglicherweise einen Konflikt oder Probleme mit Herrn Perren gegeben hat. Offensichtlich hat sich Tobias mit dieser Angelegenheit befasst, sie scheint ihn beschäftigt zu haben. Wir fragen uns, was an dieser Erbschaftssache dran war, weshalb er sich so intensiv damit auseinandersetzte. Die
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